Hilde Léon: Die Vermessung des Raumes

Die Vermessung des Raumes
Aufzeichnungen zum Kunstwerk „Salto Mentale“ von Rolf Lieberknecht in der Bibliothek der Hochschule HTWK Leipzig, entworfen und geplant von Léon Wohlhage Wernik Architekten, fertiggestellt im Herbst 2009.

Verstärkt, verbessert, verändert die Kunst die Architektur? „Ich habe geholfen, die Architektur zu verstärken, ich habe beigetragen, einige Stellen, die mir besonders schwach und verwundbar vorkamen, auszubessern. Als ich zur Verstärkung aufgeboten wurde, war das Gebäude im wesentlichen schon erstellt, aber ich bin nicht weniger im Innern und unter den Erbauern gewesen.“ Nach dieser Aussage des Künstlers Remy Zaug muss man das wohl annehmen. In der Zusammenarbeit mit den Schweizer Architekten Atelier5 hat er sich als notwendiger Dienstleister verstanden, dessen Beitrag kaum als eigenständiges Werk wahrgenommen wird.

Ein anderes Beispiel ist die Zusammenarbeit des Architekten Adolf Krischanitz mit dem Künstler Helmut Federle für den jüdischen Kindergarten in Wien. Der Künstler entwickelt Fassadenfarbe und Materialität, ja das ganze Farbkonzept: Der Künstler als Kollege, als ein weiteres Mitglied im Planungsstaff.

Diesem Wunsch nach symbiotischer Verschmelzung von Kunst und Architektur steht das konfliktträchtige Verhältnis gegenüber. „Künstler sind eher störend für das eigene Werk…“ klagt der Architekt Tadao Ando. Er meint eine Arbeit von Richard Long, die vom Künstler direkt auf die weißen Wände des Naoshima Museums aufgebracht wurde, wohlgemerkt ein Museum für zeitgenössische Kunst.

Zwischen zwei gegensätzlichen Polen, Symbiose und Entfremdung, ließe sich das ambivalente Verhältnis von Nähe bei gleichzeitiger großer Distanz aufspannen. Doch Symbiose und Entfremdung sind kaum angemessene Beziehungen zwischen Kunst und Architektur. Inzwischen wird ein anderes Verhältnis propagiert: als das ultimative Credo gilt die befruchtende Zusammenarbeit der beiden Disziplinen, , bei der sich die Künstler auf die Spielregeln von Architektur und auf die Ansprüche ihrer Nutzer einlassen und auch die Architekten ihre Herrschaft über die Gestaltung von Räumen loslassen. Abgrenzung und ein bloßes Reagieren der Kunst auf die Vorgaben der Architektur hätte ein Ende, so die Kunstkritikerin Claudia Büttner.

Aber nehmen wir uns nicht gegenseitig die Luft weg, schnüren uns ein, beschränken uns in unseren Ausdrucksmöglichkeiten, wenn wir das Kooperative, das Gemeinsame betonen? Sollten wir nicht lieber unsere Eigenarten pflegen und uns gegenseitig den Raum lassen zu agieren? Ganz unabhängig von der Chronologie der Abläufe fordern der Ort und das Thema eine Bezugnahme von Architektur und Kunst. Doch darüber hinaus bedürfen beide Disziplinen ihrer Autonomie und im besten Falle ergeben sich gemeinsame Schwingungen.

Als Rolf Lieberknecht auf den Plan trat, stand unser architektonisches Konzept bereits. Die Bibliothek war entworfen, durchgeplant und im Bau. Der Künstler wurde zu einem Zeitpunkt involviert, als die räumliche Disposition schon klar zu erkennen war. Das räumliche Grundkonzept und die Fassaden standen nicht zur Debatte, das war kaum noch möglich und nicht gewollt. Auch die technischen Bedingungen des Bauwerks mussten beachtet werden. Ein Eingreifen des Künstlers war ansonsten überall möglich, ohne Einschränkung oder Vorgabe. Wir haben umgekehrt auch keinen Anspruch auf Einmischung in die Arbeit des Künstlers erhoben. Treu der Weisung haben wir seine Vorgaben in unsere Ausführungspläne eingetragen. Während der Architekt den Raum frei gibt, bezieht sich der Künstler auf den Raum als „etwas Gefundenes“.

Kunst am Bau war nur der Rahmen und ein finanzieller Posten, der einen Einstieg in die Zusammenarbeit bot. Das Programm verschaffte lediglich die Gelegenheit, die es zu nutzen galt. Über einen geladenen Wettbewerb näherten sich Architekten und Bauherren, gemeinsam mit den Nutzern und Künstlervertretern der Frage nach einem künstlerischen Beitrag zum Haus. Das war keine verordnete Ehe mit dem Zwang, etwas gemeinsam machen zu müssen, das Bedürfnis erzeugt, sich voneinander abzugrenzen.

Statt Vereinigung war eher ein Erkennen von Andersartigkeit angestrebt: Neugierde, Aufmerksamkeit, Großzügigkeit, aber auch Lust auf Reibung hat das Projekt getragen. Als Partner in diesem Prozess muss ich übrigens nicht alles verstehen, kann das Zusammenspiel einfach laufen lassen, den Vortritt lassen. Insofern wird der Künstler zum Mitspieler, der nicht im Sinne des Architekten weiterdenkt, sondern eine neue Sichtweise entwickelt auf das Vorgefundene als Ausgangsbasis seiner Arbeit. Insofern verändert sich hierbei die Arbeitsweise der Künstler und nähert sich der des Architekten an. Denn der Arbeit des Architekten liegt die Auseinandersetzung mit dem Ort und dem Programm stets zugrunde.

Der Künstler Rolf Lieberknecht konnte sich auf den Raum, auf die Architektur und auf die geplante Nutzung einlassen. Nicht zufällig hat er die Räume in der Bibliothek bespielt, die auch für uns am wichtigsten waren: die hohen, doppelgeschossigen Lesesäle.

Sie sind wie eigene, kleine Zentren im Hause verteilt und stehen in einer nicht offensichtlichen Beziehung zueinander. Nach außen öffnen sich die Lesesäle mit übergroßen Fenster zur Stadt und präsentieren sich als Bezugsraum in die Öffentlichkeit.

Gerade in den Lesesälen hätte die Kunst auch zu viel sein können: massive Betonwände, eine Komposition aus Öffnungen, weite Ausblicke dazu noch die kräftigen Farben der Wandflächen. Können die filigranen Objekte von Rolf Lieberknecht gegen die Komposition des Raumes bestehen? Das Wagnis hat sich gelohnt und nun zeigt sich das Zusammenspiel von architektonischem Raum und kinetischem Objekt als Stärke.

Das Objekt verändert sich in der Umgebung und der Raum wandelt sich mit dem Objekt. Das ist einerseits erstaunlich und unverhofft, aber auch offensichtlich. Wir kennen die großen beweglichen Objekte von Rolf Lieberknecht aus dem Freiraum. Dort scheinen sie in weiten Bögen strahlenförmig den Raum zwischen Himmel und Erde zu beschreiben oder andere wiederum scheinen in kleinen Bewegungen den Raum flach und erdnah neu zu vermessen. Umgekehrt betrachtet, vom Objekt in den Raum, ermöglichen die Spitzen der Objekte einen neuen Blick auf die Welt. So ist es nur folgerichtig, dass Rolf Lieberknecht in einer jüngeren Arbeit diesem Blick auf die Spur kommen will. Eine winzig kleine Kamera fängt von der Spitze aus den Blick in die Welt ein und projiziert dieses Bild auf eine große Leinwand. Wie mit einer „Speerspitze“ markiert die Kamera Orte, was einem den etymologischen Zusammenhang von Ort auf Speerspitze bildlich verdeutlicht.

In allen drei Lesesälen der Bibliothek entwickeln diese „Vermessungsinstrumente“ eine beunruhigende und gleichsam ruhige Kraft. Die filigrane Zartheit der Konstruktion mit sanft schwingenden Bewegungen ist von meditativer Präsenz. Vier Stäbe vermessen dreidimensional den Raum. Man wartet geradezu darauf, dass die Spitzen womöglich die Raumgrenzen streifen, an der farbigen Betonwand entlang kratzen, dass Objekt und Raumgrenze kollidieren. Aber das passiert natürlich nicht. Die weiteste Auslegung ist die Breite des Raumes. Rolf Lieberknecht hat die Dimensionen genauestens austariert. Hier kommt der Präzisionsfachmann, der Feinmotoriker, der klare Rationalist zum Vorschein. Hier wird das Erbe seines Großvaters Paul sichtbar, Strumpfmaschinenerfinder und Textilfabrikant. Man muss sich hierzu nur die wunderbaren Konstruktionszeichnungen zu seinem Werk „Salto Mentale“ anschauen.

Noch etwas anderes unterscheidet das kinetischen Objekt „Salto Mentale“ von den Skulpturen im Freiraum: sie hängen. Natürlich hat das etwas Erhabenes und gleichzeitig etwas Beunruhigendes. Das bewegliche Objekt zieht den Blick nach oben, er bleibt haften. Und vielleicht nimmt man erst dadurch den extremen Raumzuschnitt des Lesesaals wirklich wahr. So sind aus der fixen Perspektive am Lesetisch ambivalente Wahrnehmungen möglich: denn im Kontrast zum Blick nach außen, zur vitalen Stadt, zur Öffentlichkeit steht eine meditative Innensicht.

Man ist immer wieder versucht, einen idealen Moment der Bewegung festhalten zu wollen. Wenn die Perfektion einer bestimmten Geometrie zutage tritt, verschwindet der Augenblick, schnell im Prozess der Wandlung, lässt sich nicht halten oder einfangen. Die Bewegungen können ihren Rahmen nicht sprengen und dennoch ist jede Bewegung, jede Beziehung der vier Stäbe zueinander einmalig und damit unendlich. Ein Rapport bleibt verborgen. Dem kontemplativen Nachsinnen dieser verborgenen Logik mag eine neue Phase der Konzentration folgen.

Für das Kunstwerk „Salto Mentale“ gibt es einen unendlich weiten Spielraum von Interpretationen, analog zu den möglichen Bewegungsbildern. Und so schimmert hier durch, was Umberto Eco in der Poetik des offenen Kunstwerks über die Qualität von zeitgenössischer Kunst beschreibt: „Im Grunde ist eine Form ästhetisch gültig gerade insofern, als sie unter vielfachen Perspektiven gesehen und aufgefasst werden kann und dabei eine Vielfalt von Aspekten und Resonanzen manifestiert, ohne jemals aufzuhören, sie selbst zu sein. In diesem Sinne also ist ein Kunstwerk, eine in ihrer Perfektion eines vollkommen ausgewogenen Organismus vollendete und geschlossene Form, doch auch offen, kann auf tausend verschiedene Arten interpretiert werden, ohne dass seine unwiederholbare Einmaligkeit davon angetastet würde. Jede Rezeption ist so eine Interpretation und Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in einer originellen Perspektive neu auflebt.“

Natürlich gilt dieser Aspekt des Offenen ebenso für die Architektur. Deswegen nehmen sich beide Disziplinen Raum zum eigenen Spiel. Beim Loslassen kann der Ausbruch aus der eigenen Ideenwelt gelingen. Das funktioniert nur in Autonomie und nicht in einer Symbiose. Die Grundlage und Voraussetzung hierfür ist ein Vertrauensvorschuss. Dann kann sich in dem Gegenüberstehen von Themen, in der Eigenständigkeit, in dem Anerkennen der Andersartigkeit eine überspringende Erregung entwickeln.

Klaus Armbruster: Zu den Arbeiten von Rolf Lieberknecht

Präzision ist erforderlich, beim Reflektieren einer so präzisen Arbeit und Achtsamkeit ist angebracht beim Gebrauch von Worten angesichts dieser scheinbar wie von selbst in die Welt gekommenen und ganz sich selbst genügenden  Skulpturen eines Künstlers, der  im Kleinen wie im Großen seinen Ausdruck sucht, Form und Funktion im Kleinen wie im Großen zu fragiler Schönheit balanciert.

Ganz selbstverständlich in die Welt gekommen sind  diese kinetisch – skulpturalen Wesen in Wahrheit aber nicht. Sie sind, wie alle künstlerischen Äußerungen, auf  menschliche Kommunikation, auf Sehen, Zeigen und Gesehenwerden, auf Tat und Beobachtung, auf Voraus – und Nachdenken angewiesen und vielfach rückbezüglich aus alledem entstanden.
Ja,  ich denke, dass Rolf Lieberknecht es darauf anlegt, den Betrachter seiner Werk einzuladen zur Teilnahme an einem schöpferischen Prozess, der vom Künstler begründet  ausgelöst, sich erst durch Betrachtung sublim entfaltet und verwirklicht.

Erst durch unser Wahrnehmen kommt vollends in die Welt und genügt sich selbst, was er geschaffen hat.
Lassen Sie mich dem Wesen dieser Arbeit   nachspüren in Dimensionen, die sich mirin freier Assoziation beim Anschauen erschlossen.

Skulptur
Figur
Zeichnung
Zeichen
Linie
Fläche
Ruhe …

Zeit
Raum
Bewegung
Zeit-Raum-Bewegung
Bildertanz
Film
Vergänglichkeit …

Unendlichkeit
Natur
Licht
Schatten
Material
Konstruktion
Handwerk …

Drei mal sieben Dimensionen sind in loser Reihe aufgekommen und noch viele andere individuelle Resonanzen seiner Arbeit klingen an, bringen unvorhersehbar und lebhaft Wechselwirkungen hervor, und sind doch konkret und nachvollziehbar gebunden in jeder einzelnen Figur.

Skulptur – Figur – Zeichnung

Hier zeigt sich die im wahrsten Sinn des Wortes gewaltige Spannweite im Schaffen von Rolf Lieberknecht.
Wer seine haus – und baumhohen windkinetischen Stahlskulpturen in städtischen und naturnahen Außenräumen gesehen hat, wird dort bei aller Materialwucht, Statikrelevanz und ausgefeilter Lagertechnik die gleiche Anmut, Stille und luzide Einfachheit gefunden haben, die auch die hier gezeigten kleineren und kleinsten Arbeiten auszeichnen.
Dennoch würde keiner, der zu einer der großen Stahlskulpturen aufschaut und deren freies Spiel in Wind und Sonnenlicht, Wolkenzug und Architekturumfeld verfolgt, an Zeichnung denken, zu groß die Wucht metallischer Präsenz.
Doch im Maß des Innenraums, wo Materialien sich federleicht im Nichts verlieren, wo zarte Schattenlinien an den Wänden mit den Figuren grauwertig gleichgewichtig sich verflechten, wird die Dimension von Zeichnung evident.
Groß – und Kleinskulptur so weit gespannt und doch in Anmut, Stille, Einfachheit verwandt, sind ganz und gar dem Ort bestimmt, für den sie entworfen sind.

Ruhe – Bewegung – Zeit

Ruhe ist nicht der Zustand, für den die Skulpturen geschaffen sind und doch verharren sie, wenn kein Luftstrom auf sie wirkt, in schwerelos erwartungsvoller Ruhe. Ist diese Ruhe gestalterischer Ausgangspunkt, Ziel der Konzeption, erwartete Idealform oder nicht vermeidbar Zwischenfall?
Im schönen Doppelkatalog zur Ausstellung des verstorbenen Konrad Wohlhage und Rolf Lieberknechts, 2007 in der Berliner Galerie Inga Kondeyne, stehen den Abbildungen der Zeichnungen Wohlhages  Fotografien von Lieberknechts Skulpturen gegenüber wie dies bei dreidimensionalen Arbeiten unumgänglich ist.
Im Anhang bedankt sich der Künstler bei dem Fotografen Udo Hesse ( Zitat ) :
 „ für sein Talent, meine Skulpturen so sensibel und einfühlsam in das Medium Fotografie zu übertragen.“
Dies ist Udo Hesse so überzeugend gelungen, dass beim Betrachten der durch Fotografie in Ruhezustand versetzten Skulpturen in mir die Frage aufkam, ob den für das Spiel der Bewegung und unendliche Formenvielfalt entwickelten Skulpturen nicht doch eine von Rolf Lieberknecht gesuchte und bewusst oder  unbewusst gefundene Idealform innewohnt, die in einer der möglichen Ruhestellungen zum Vorschein kommt, als solche vom Fotografen aufgespürt, in ein entsprechendes Format gesetzt, und nun im Bild erfasst, der Vergänglichkeit enthoben?

Und doch ist Ruhe nicht der Zustand, für den die Skulpturen geschaffen sind, sie sind der Bewegung gewidmet, ausgelöst durch Wind, Raumluftdynamik oder Atemhauch. Erst im Fluss von Ruhe und Bewegung entfaltet ihre Aura sich, und da kommt unausweichlich Zeit als Dimension ins Spiel: Der statuarischen Ruhe zeichenhafter Ausgangsposition ist die choreografische Struktur zukünftiger Bewegungen so eingeschrieben, dass der Begriff Skulptur das Wesentliche zu fassen nicht mehr vermag.

Wir finden uns, sobald Bewegung anhebt, wie in den zeitbasierten Künsten Film, Tanz, Musik in rhythmisch gestaltete Zeiträume versetzt, die wir jedoch nur dann erfahren können, wenn wir selbst mit auf die Zeitachse gehen und die im Lauf der Zeitaus der Bewegung entstehenden Ereignisse von Formen -, Licht – und Schattenspiel auf uns wirken lassen.

Material – Konstruktion – Handwerk

Rolf Lieberknecht lädt uns – wie   eingangs schon bemerkt – als  Betrachter in die Vollendung seines künstlerischen Werkes ein und setzt damit den Weg fort, den er schon als junger Künstler auch an der Seite Otto Pienes gegangen ist. Mit Land Art  und  Sky Art Projekten, mit schwebenden und fliegenden Installationen, Raum interpretierenden Laser-Strahlen, archaisch schweren Wasser-Stein Skulpturen erforscht und reflektiert er die Urelemente Licht, Luft, Erde und  Wasser.

Wie bedeutend in seinem Arbeitsleben später große, luftbewegte Stahl-Skulpturen für ihn werden würden, wusste er 1972 – 73  vielleicht noch  nicht, als er aus Stahl betörend schöne kinetische Konstruktionen und Knoten zur Bewegungsübertragung baute, die sich auf seiner web-site finden lassen und sich im Rückblick nahtlos wie Vorboten späterer Taten in die Linie einer künstlerisch konsequenten Arbeit fügen. Ich nehme diese frühe Arbeit als Beleg dafür, dass auch sein Hang zur Perfektion, den er selbst immer wieder kritisch hinterfragt, bei ihm schon früh ästhetisch produktiv geworden war und bis heute eine der Kraftquellen seiner Arbeit geblieben ist.
 
Doch erst der Meister fand den Weg zur kleinen Form, die Material- und Technikaufwand nicht mehr braucht und doch so vollkommen, auch handwerklich vollkommen ist. Groß oder klein, technisch aufwändig oder schlicht, was er mit Kopf und Händen in die Welt bringt,  bewegt sich im Atem des beseelten Lebens.

Klaus Armbruster im Januar 2009 für Rolf Lieberknecht

Rolf Lieberknecht: „Anmerkung“

ANMERKUNG „Ich lobe den Tanz, denn er befreit den Menschen von der Schwere der Dinge
und verbindet das Individuum mit der Gemeinschaft“.
(Augustinus 354 – 430)

Die Ergebnisse meiner künstlerischen Befassungen als Ganzes sind höchst unterschiedlich.
Ich bin auf nichts festgelegt, entscheide Medium, Material, Technik, Format immer nach der
Angemessenheit für den Gedanken, die Idee, die Form.
Vielleicht ist das Gemeinsame aller Arbeiten das ihnen innewohnende Ereignis, das Veränderliche,
die Bewegung im Raum und in der Zeit. So ist allmählich aus dem Gemeinsamen
mein Thema geworden. Hier zeige ich ausschließlich kinetische Skulpturen, einige davon
zum ersten Mal öffentlich. Sie entfalten ihr dreidimensionales und raumgreifendes Bewegungsspiel
durch die Einwirkung von Windenergie, bei kleineren Arbeiten durch Luftzug oder einfach
durch den menschlichen Atem. Im statischen und dynamischen Wechsel von
Balance und Schwerkraft entstehen Choreografien von schwingenden, kreisenden und
pendelnden Bewegungen, unerwartet, spielerisch, langsam, leise und leicht. Dieser Qualität
von Bewegung gilt mein forschendes Suchen. Obgleich die Skulpturen in ihrer technischen
Konstruktion den Gesetzen der Physik folgen, in ihrer Struktur die Regeln des geometrischen
Raumes aufzeigen und in ihrer sachlichen Ästhetik eine geistige und verstandesmäßige
Nachvollziehbarkeit scheinbar anbieten, so wollen sie doch in ihrem künstlerischen Gehalt
als freie, dem Tänzerischen und Musikalischen verwandte Bewegungsimprovisationen, eher
von der Empfindung wahrgenommen und erkannt werden. Falls eine Interpretation nötig
wäre, könnte man sagen: Das „Langsame“ steht für eine kritische Position gegenüber
ständig wachsender Beschleunigung, das „Leise“, aus der Stille entwickelte, für das Verfeinern
der Wahrnehmung durch Konzentration und Besinnung und das schwerelose „Leichte“
für den sparsamen Gebrauch von Ressourcen, die Verwendung von Materialien und Energien
nach ökologischen Kriterien. Ich lobe die Bewegung in der bildenden Kunst,
denn sie befreit das Material von seiner Schwere und verbindet die Skulptur mit Raum
und Zeit.

Rolf Lieberknecht
COMMENTS “I praise dance, because it frees people from the weight of things and binds the
individual to society”.
(Augustine 354 – 430)

The results of my artistic efforts, taken as a whole, are highly varied. I am not bound to anything;
I decide on medium, material, technique and format according to their appropriateness
for my thoughts, for an idea, a form. Perhaps what is common to all my objects is an event
which takes place within, perpetual change, movement in space and time. Thus, in the
course of time, my theme has developed out of these common factors. Here, I am displaying
exclusively kinetic sculpture – some objects for the first time. They unfold their three-dimensional
space-grasping play of movement through wind energy, the smaller works through a
draught, or simply through human breath. Choreographies of swaying, circling, vibrating
movements – unexpected, playful, measured, soft and light, emerge from static and dynamic
changes in balance and gravity. It is this quality of movement that is the goal of my seeking.
Although the sculptures follow the laws of physics in their technical construction, the
laws of geometrical space in their structure and apparently offer an intellectually understandable
comprehensibility in their objective aesthetics, in the free improvisation, borrowed from
dance and music, which is their artistic form, they must be perceived and recognised from
the standpoint of emotion. If an interpretation is necessary, one could say: “measuredness”
stands for a criticism of continually growing acceleration, “soft”, developed from stillness,
stands for the refinement of perception through concentration and recollection and weightless
“light”, stands for the sparing use of resources, the employment of materials and energy on an
ecologically favourable basis. I praise movement in the Fine Arts for it frees
objects from their weight and relates sculpture to time and space.

Rolf Lieberknecht

Thomas Zaunschirm: Das Finden der Balance

Balance 2003
Material: Eisen, Federstahl, Messing
H: 50 cm, B: 40,3 cm, T: 40,3 cm

Balance 2003
Foto: Udo Hesse

DAS FINDEN DER BALANCE

Zu einer Skulptur von Rolf Lieberknecht

1. Eröffnung   Die „Balance“ (2003) wird in einem eleganten weißen Etui aufbewahrt. Nachdem
man die etwa 47 x 8 x 2 cm große Schachtel geöffnet hat, sieht man, eingebettet in einen
schwarz geriffelten Karton, ein transparentes Rohr, das an seinem Ende in einen 2,5 cm hohen
rostfarbenen Halbzylinder geschoben ist. Hebt man den Zylinder heraus, bemerkt man,
dass beide Teile ineinander Halt finden, weil die Rundung des Zylinders etwas über seine Hälfte
hinausgeht. Nachdem man die Teile voneinander getrennt hat, entdeckt man in dem gläsernen
Rohr zwei gleichlange dünne Stäbe: der etwas breitere ist aus Messing, der andere aus
Stahl. Man öffnet den Glaskorken und entnimmt die beiden 40,3 cm langen Elemente. Die Verpackung
stimmt einen auf das folgende ästhetische Ritual ein. Worauf es ankommt, sind die
drei verschiedenfarbigen Metallteile. Es ist wichtig, dass man die Skulptur als Ergebnis
einer Handlung versteht, da sie das Überraschungsmoment besser erschließt.
Der Bogen des liegenden Zylinderschnitts ist ein Sockel mit einem punktgroßen Loch. In diese
mittlere Öffnung passt der dünne, an beiden Enden zugespitzte Stahl. Bevor der etwas breitere
Messingstab darauf gelegt wird, sollte die Vertikale zur Ruhe gekommen sein. Die gleichlange
Horizontale ist in der Mitte leicht eingekerbt. Sie wird auf die Spitze der Vertikalen gelegt. Ist
der Grund nicht schief, kommt das System zur Ruhe. Nach einer Zeit der nachlassenden Aufmerksamkeit
nimmt man gelegentlich nur noch die schwebende Horizontale wahr. Das Ganze
hält, auch wenn es wie Mobiles (oder Stabiles) durch Bewegung im Umfeld, den schwingenden
Boden oder einen Windstoß ins Schwanken gerät und sich sogar um die Achse dreht. Einfach
gesagt, handelt es sich um eine kinetische Skulptur, die ihr Ziel in der Ruhe erreicht.2. Punkt und Kreise   Auch wenn der horizontale Stab auf der Vertikalen ruht, handelt es
sich mathematisch um die Kreuzung von zwei Geraden in einem Punkt. Beide sich biegenden
Geraden haben eine Schwankungsbreite möglicher Bewegungen. Sie beschreiben in der Mitte
mit dem Kreuzungspunkt und an den Enden kreisende Formen im Raum. Durch die minimale
Einkerbung auf der Unterseite des Messingstabes werden überraschend heftige Schwankungen
möglich, bevor das System abstürzt. „Es gibt Dinge, die den meisten Menschen unglaublich erscheinen, die nicht Mathematik studiert haben.“ Der Ausspruch soll von Archimedes (287– 217 v. Chr.), dem bedeutendsten
Mathematiker der Antike stammen. Nicht jeder hat Mathematik studiert, sodass die „Balance“
unglaublich wirkt. Sie zeigt auch in metaphorischer Weise, wie selbstverständlich es ist, seine
Balance zu gewinnen, und wie unvermittelt der Absturz folgen kann.
Als Archimedes Kreise in den Sand zeichnete, wurde er der Legende nach von einem römischen
Soldaten erschlagen, weil er diesen ermahnte: „Störe meine Kreise nicht“. Als erkenntnistheoretische
Weisheit gilt der „archimedische Punkt“. Darunter verstand der antike Denker den „absoluten Punkt“ außerhalb eines Versuchsaufbaues, der als unveränderbarer Hebelpunkt diente. Mit ihm könne man „ganz
alleine die Erde anheben, wenn man nur diesen einen festen Punkt und einen ausreichend langen
Hebel hätte“. Der Haken daran war, dass diese Utopie nur in einem geschlossenen Kosmos
als sinnvoll verstanden wird. Ein „quasi archimedisches System“ liegt dann vor, wenn
sich der Hebelpunkt in ein System der (nicht zu störenden) Kreise schiebt. In einem offenen
Universum gibt es keine Punkte außerhalb von Versuchsaufbauten (wie der Erde).
Archimedes’ Berechnungen waren naturgemäß durch das statische Weltbild seiner Zeit beschränkt.
Das Verhältnis von Flächeninhalten krummlinig begrenzter Flächen überprüfte er
nicht mathematisch, sondern praktisch. Er zeichnete derartige Flächen auf dünne Tafeln
und schnitt diese aus. Dann beschnitt er gleichdünne quadratische Flächen solange, bis diese
das gleiche Gewicht wie die unregelmäßig begrenzten Flächen hatten. Die Fläche eines
Quadrates konnte er berechnen und somit auf den Flächeninhalt von krummlinig begrenzten
Flächen schließen. Auf diese Weise diente das Gewicht der Überprüfung mathematischer Größenverhältnisse.
Archimedes bewies auch, dass sich der Umfang eines Kreises zu seinem
Durchmesser genauso verhält, wie die Fläche des Kreises zum Quadrat des Radius. Wir nennen
das π (Pi).

3. Symbolische Momente   Befindet sich die „Balance“ in Bewegung, sind ihre dynamischen
Zeichnungen kaum zu verfolgen. Auch wenn die Gravitation der entscheidende Faktor ist,
fasziniert gerade die sich ihr entziehende Leichtigkeit der Schnitte in dem raumzeitlichen Feld
der Anlage. Nicht die Schwerkraft bewirkt die Eindrücke gekrümmter (d.h. bewegt-zeitlicher)
Räumlichkeiten, sondern die Linien heben und senken sich unter dem eigenen Gewicht der
Vertikalen und Horizontalen. Erfassbar wird die Schwerkraft nur im Punkt, auf dem das Messing
aufliegt. Die Kräfte kommen von auswärts. Der archimedische Punkt ist nicht absolut, sondern
konkret. Der Punkt und der Hebel bringen nicht die Welt aus dem Lot, sondern umgekehrt.
Die Welt bewegt die Anordnung, und das Nachlassen der Einflüsse endet in der Balance.
Erreicht das System der Orthogonalen sein Gleichgewicht, wird die Geschichte der Bedeutungen
evoziert. Als der euklidisch-flache Raum durch die relativistische Physik (und Geometrie)
verabschiedet wurde, entwickelten sich seine Koordinaten für die Kunst zu einem Ordnungssystem.
Dabei orientierte man sich nicht zuletzt an esoterischen Traditionen. Piet Mondrian
strebte nach dem Ausgleich der widerstreitenden Polaritäten: Natur – Geist, weiblich – männlich,
negativ – positiv, Statik – Dynamik, Horizontale – Vertikale. Selbst dort, wo es im Werk
die formale Entsprechung nicht gab, wo der rechte Winkel nicht den mitbestimmenden Ausgleich
schuf, bediente sich der neue Geist der rigiden Dichotomie. Wassily Kandinsky, dem
wir feine Beobachtungen über Punkt und Linie zu Fläche (1926) verdanken, stürzt auch in die
typisch männliche ikonografische Zuweisung ab: die Horizontale wird zum liegenden passiven
Weiblichen, die Vertikale zum beweglichen, aktiven Männlichen. Wie weit wir von dieser
Sicht, in der die Waagerechte die unbewegliche Basis darstellt, entfernt sind, zeigt der Blick auf
die schwebende Eleganz der „Balance“: die schwingende Horizontale trägt nicht, sondern
wird getragen, sie ist nicht unten, sondern oben. Wir genießen ihre Bewegung und erfreuen
uns am Stillstand, in denen wir keinen Gegensatz, sondern Ergänzungen sehen.
Die „Balance“ wird nicht durch den auftrumpfenden Gestus der pathetischen Avantgarde
bestimmt, sondern von der symbolentlasteten Leichtigkeit spielerischer Weltsicht. Sie ist nicht
das Abbild ewiger Wahrheiten, sondern zeigt die heitere Umkehr der Kräfte. Die „Balance“
demonstriert nicht das starre Ende, sondern erfreut und erheitert durch ihre ständige Bereitschaft,
neue Impulse aufzunehmen.

Thomas Zaunschirm

FINDING YOUR BALANCE

About a sculpture by Rolf Lieberknecht

1. Opening   The “Balance” comes in an elegant white case with the measurements 47x8x2 cm.
As you open it, you see a transparent tube, embedded in a black cardboard. The tube rests in
a rust-coloured half-cylinder that encloses it far enough, so it can’t fall out. You can slide it out
sideways. The tube contains two thin rods, one made of steel, the other, slightly thicker, made
of brass. You open the glass cork on the tube and take them out. The packaging is an overture
to the ensuing aesthetic ritual. The essence of the sculpture lies in the three differently
coloured metal parts. It is important to see the sculpture as the result of a process. In this way,
the element of surprise is revealed more profoundly. The rounded part of the half-cylinder serves as
a pedestal. In the middle there is a minute hole for one of the tips of the thin steel rod. This vertical
part of the sculpture, or of the “Balance”, must be allowed to become completely still and
balanced before you put the wider brass rod horizontally on top. The brass rod is slightly
grooved in the middle and will come to rest on the upward tip of the steel rod. On an even
surface, the system will come to rest and stay in equilibrium. After some time of fading concentration,
all you will register is the floating horizontal. The sculpture remains basically stable
like a mobile (or stabile), although it may sway or even turn around its vertical axis with a
gust of wind or other movement around it. Put simply, the “Balance” is a kinetic sculpture
whose aim it is to remain still.

2. Point and circles   Even if the horizontal rod rests on the vertical one like in the letter
“T”, in mathematical terms we are dealing with the crossing of two straight lines in one point.
Both of these (bending) straight lines have a limited range of possible movements available
to them. They describe elliptical shapes around the anchored cross-point in the middle. The
small groove in the underside of the brass rod allows for surprisingly violent movement without
crashing the system. “There are things that seem unbelievable to
people who did not study mathematics”. This quote is attributed to Archimedes (287– 217 BC),
the most prominent mathematician of ancient times. To most of us who don’t have a degree in
mathematics, the “Balance” seems incredible. It shows in a metaphorical way how natural it is
to gain or regain your balance – and how sudden and unexpected the ensuing crash can be.
Legend has it that Archimedes was drawing circles in the sand and was killed by a Roman
soldier, because he told him: “Do not disturb my circles”. The “Archimedean point” is an essential
part of epistemological wisdom: The ancient thinker saw this point as an absolute point
outside of the experiment which served as a invariable reference point. It would be possible,
he said, to lift the earth by this one fixed point alone if one had a long enough lever. The problem
is that this utopia can only work in a closed universe. If the leverage or reference point is
moved inside a system of circles (which should not be disturbed), we have a “quasi Archimedean
system”. In an open universe there cannot be points outside
the experiment (like the earth, for example). Archimedes’ math was naturally limited by
the static world view of his time. He did not arrive at the area of a surface by mathematical
means, but by practical means. He drew the surfaces on thin tablets and cut them out. Then
he compared the weight of the tablets. So the weight served as a parameter for area. Archimedes
also proved that the circumference of a circle in relation to its diameter is the same as
the area of a circle in relation to the square of its radius. This is called π (Pi).

3. Symbolic Moments
   When the “Balance” is in motion, its dynamic drawings can hardly be
followed. Although gravity is the defining factor, the moves cut through the space-time scope
defying gravity. It is not gravity which creates the impression of curved space, but the lines
themselves rise and fall with the weight of the vertical and the horizontal. Gravity is only tangible
in the one spot where the brass rod touches the steel. The forces come from outside.
The “Archimedean point” ist not absolute, but real. The point and the lever do not throw
the world off balance, but it is the other way round: the world around it moves the system,
and the diminishing influence of outside forces will end in balance, in equilibrium.
As soon as the equilibrium is reached, the history of meaning is evoked. When the Euclidean
flat space was replaced by relativistic physics and geometry, its coordinates became a classification
system for the arts. Esoteric traditions were also a way of orientation. Piet Mondrian
strove for the reconcilliation of opposing forces: nature – spirit, female – male, negative – positive,
static – dynamic, horizontal – vertical. Even when there was no formal equivalent in the
works themselves, when right angles were not used to convey this reconcilliation, the new
mind still used this rigid dichotomy. Even Wassily Kandinsky, who gave us some delicate
observations about the relation of point and line to shape (1926), falls into the typically male
iconographic assignation: The horizontal is the passive, supporting female part, the vertical is
the active male part. One look at the floating elegance of the “Balance”
shows how far we have moved away from this view that the horizontal has to be the immobile
base. The mobile horizontal is not the supporting part, it is being supported. It is not
underneath, but on top. We are enjoying its movements and also, when it comes to rest,
the stillness. Movement and standstill are not opposites, but complement each other.
The “Balance” is not defined by the boastful posturing of a pathetic avantgarde but by the
lightness of a playful worldview, free from symbols. It is not an image of eternal truths but
shows a cheerful reversal of powers. The “Balance” does not demonstrate a fixed
conclusion, but delights us with its neverending readiness to react to a new impulse.

Thomas Zaunschirm

geb. 1943, Promotion und Habilitation in Salzburg Gastprofessuren an den Universitäten Zürich und Graz
1989-1994 Professor für Kunstgeschichte an der Universität Freiburg i.Br.
1995-2007 Professor für Neuere Kunstgeschichte/Kunstwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.
Zahlreiche Bücher zur Kunst der Moderne („Duchamp-Trilogie“, 1982-86) und Methodologie („Leitbilder“, 1993)

born 1943, he wrote his doctoral thesis and habilitation in Salzburg. He was a Guest Professor at
the Universities of Zürich and Graz.
1989-1994, he was Professor of the History of Art at the University of Freiburg i.Br..
From 1995-2007, he has been Professor of the History of Modern Art/Aesthetics at the University Duisburg-Essen.
He has published many books on Modern Art (“Duchamp-Triologie”, 1982-86) and Methodology (“Leitbilder”, 1993).

Ilse Middendorf: Zu der Skulptur „Balance“

Balance, 2003
Material: Eisen, Federstahl, Messing
H: 50 cm, B: 40,3 cm, T: 40,3 cm

Balance, 2003
Foto: Udo Hesse

ZU DER SKULPTUR „BALANCE“

Ein Kleinod steht auf meinem Schreibtisch. Es begleitet meinen Alltag, schwingend, bewegt, anregend,
beruhigend und nie ohne Bedeutung. Es steht auf der zuverlässigen Fläche eines halben
Zylinders im Umfang einer Fingerkuppe und mit einer lichten Mitte, aus der ein Stab nach oben
wächst – eine Linie, die das Auge entzückt und mich aufrichten lässt: „Wie aus Stahl“ – ja es ist
ein Stab aus Stahl, eindeutig, klar, schmucklos – und zielstrebig bis zum Punkt, der Halt gebietet.
Hier stockt kurz mein Atem, denn er wollte sich weiter nach oben richten. Das Wunder –
der Punkt – trägt hier eine zweite Linie aus Messing, die waagerecht in unendliche Weite
führt. Zwei Lebenselemente kreuzen sich hier, schneiden sich, vereinen sich. Im Wahrnehmen
der Richtung nach oben und unten lassen sie mich wesentliche vitale Kraft erfahren, die dem
senkrechten Lebensgefühl inne wohnt – und im Waagerechten dagegen erscheint die Fülle der
gestalteten Gegenwart.
Direkt und unerbittlich fordert mich die hohe Kunst dieses Werkes, das mich auch aus feinsten
Klängen der Zartheit anrührt. Rolf Lieberknecht gab ihm den Namen „Balance“. Das
klingt wie der Ruf einer Glocke und verweist das Wort „Gleichgewicht“ in die mehr mentale,
betrachtende Seite des Lebens mit der gleichzeitigen Einsicht, dass Worte die Bedeutung
des Werkes und sein inneres Wesen nicht mehr erreichen.
Im Schauen aber und im Lauschen lässt es mich atmen – einen Atem, der mir Fülle gibt,
mehr Kraft, mehr Stille – und leise entsteht ein Band zwischen dem Kunstwerk und mir. In der
partnerschaftlichen Schwingung entsteht das Glück, gemeinsam bewegt und im Gültigen angekommen
zu sein. Ist es verwunderlich, dass Heiterkeit aufkommt, dass das „Gewichtige“
leicht wird und die „Mitte“ dicht – und dass der ewige Ruhepol „Balance“ als Ruhe und Bewegung
vereint umschlossen ist?
Im Wechsel von Tun und Lassen hat die schöpferische Kraft den Kosmos sichtbar werden lassen
und schenkt der Materie das Erwachen zum bewussten Sein. Das Leibliche, unsere körperliche
Materie, noch immer im Unbewussten befangen, braucht Hingabe und Achtsamkeit,
um im Gleichgewicht die Seinskräfte von Seele und Geist zu ergänzen und die Lebendigkeit
aller Zellen zu bewirken. Hier möchte ich dem Schöpfer der „Balance“,
die auf meinem Schreibtisch steht und mir täglich Gespräche erlaubt, zutiefst danken.

Ilse Middendorf


OBSERVATIONS ON THE SCULPTURE “BALANCE”

A little treasure stands on my writing desk. It accompanies my day-to-day living – vibrating,
moving, inspiring, calming, but never without meaning. It stands on a solid half-cylinder base,
the size of a finger tip and with a central space out of which a rod grows upwards – a line that
entrances the eye and always gives me fresh heart: “As if made of steel” – it is indeed a steel
rod, unequivocal, clear, unornamented – and single-mindedly reaching towards the point
that gives it security. Here my breath falters an instant, for it was directed higher. The miracle,
the point, has a second brass line that stretches horizontally in endless expanse.
Two life elements cross one another here, intersect with one another and unite. Gazing upwards
and downwards, I experience the essential, vital power that dwells in the perpendicular
life feeling – the fullness of the created present exists in the horizontal.
The exalted art of this work that touches me with its most delicate tones of tenderness,
drives me on, directly and mercilessly. Rolf Lieberknecht named it “Balance”. This name
rings like the summons of a bell and its reference is to the mental, reflective side of life, although
it is obvious that words can never convey the meaning of this work and its inner
being.
In my gazing and listening, it allows me to breathe – a breath that gives me fullness, more
strength, more stillness – and very quietly, a band is forged between this work of art and me:
in the vibrations of partnership, the joy of moving together and achieving validity. Is it at all
surprising that happiness is born and “Balance”, uniting both calm and movement, brings
an everlasting peace?
In an alternation of action and non-action, the creative power made the cosmos visible and
endowed matter with an awakening to conscious being. The body, our physical matter,
still imprisoned in unconsciousness, needs attention and watchfulness to complement in
balance the powers of being in soul and mind and to awaken all cells to vitality.
Here, I would like to thank sincerely the artistic creator of the “Balance”, that stands on my
writing desk and still speaks to me every day.

Ilse Middendorf

geb. 1910, Begründerin der Lehre „Der Erfahrbare Atem“. Nach Ausbildungen in Gymnastik,
Tanz und verschiedenen Formen der Leibtherapie, langjährige Arbeit mit C. Veening
1965 Gründerin und Leiterin des Instituts für Atempädagogik und -therapie, das heute als Ilse-
Middendorf-Institute für den Erfahrbaren Atem mit Sitz in Berlin und in Beerfelden (Odw., Inh. Helge
Langguth) bekannt ist
Ab 1965 Lehrtätigkeit und von 1971-1975 Professur für Atem, Ton und Sprache an der
Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Berlin.
Bis heute Mitarbeit an vielen Institutionen im In- und Ausland.
Autorin der Bücher: „Der Erfahrbare Atem – Eine Atemlehre“ / Der Erfahrbare Atem in seiner Substanz“
/ „Wesen und Wirken des Erfahrbaren Atems“ (Studie) / „Der Erfahrbare Atem und seine Bedeutung für den Menschen“
2009 verstorben in Berlin

born 1910, Founder of the movement “The Experienced Breath”.
After training in gymnastics and dance and different forms of physical therapy, many years of cooperative work with C. Veening.
In 1965, she founded the Institute of Breath Pedagogy and Therapy that is today the Ilse Middendorf Instituts of Breath Experience in Berlin and in Beerfelden (Dir. Helge Langguth).
Since 1965 lecturer and from 1971-1975 Professor at the Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Berlin.
Up until the present, collaborative work in many institutions at home and abroad. Publication of various books.
She died 2009 in Berlin

Haus Einsiedel 2006

Haus und Garten im Frühling und Frühsommer
Leben in doppelter Obhut zwischen Einsiedel und Altenhain

Gespräch mit Professor Rolf Lieberknecht
über eine Chemnitzer Unternehmerfamilie und ein heute denkmalgeschütztes Haus.
Die Fragen stellt Karlheinz Reimann aus Kleinobersdorf.

K.R.:
Herr Professor Lieberknecht, Sie sind heute an der Universität Duisburg-Essen tätig und haben dort einen Lehrstuhl für Bildhauerei und Dreidimensionale Gestaltung. Zum anderen entstammen Sie einer alteingesessenen Chemnitzer Unternehmerfamilie. Wie kam es dazu, können Sie uns etwas über Ihren Lebensweg und das Wirken Ihrer Vorfahren in Chemnitz berichten?

R.L.:
Die Geschichte der Familie Lieberknecht ist in Chemnitz, Oberlungwitz und Hohenstein-Ernstthal über mehrere Generationen eng mit der Entwicklung und Herstellung von Wirkmaschinen verbunden. Sie reflektiert die Historie einer erfolgreichen Fabrikantenfamilie in der Zeit des Übergangs von der Manufaktur/Werkstatt zur Fabrik im Prozess der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts. Erfindergeist, unternehmerisches Denken und Handeln sowie Bildung und Wissen auf hohem technischem und auch internationalem Niveau hat den Erfolg solcher Gründerfamilien ausgemacht und die Wirtschaftskraft der Region mitbegründet. Außerdem gehörte zum Selbstverständnis und Standesbewusstsein des Unternehmers soziales und kulturelles Engagement sowie die Übernahme von staatsbürgerlichen Ämtern und Verpflichtungen. Die Söhne des 1807 geborenen Friedrich Wilhelm Lieberknecht, also meines Ururgroßvaters gründeten 1873 in Oberlungwitz eine Firma für die Weiterentwicklung des Wirkmaschinenbaus. Sie konstruierten und bauten in ihrer Fabrik eine Pagetwirkmaschine mit einer stabileren und leistungsfähigeren Technologie, die später unter dem Namen Lieberknecht-Maschine ein Begriff wurde. Zahlreiche technische Neuerungen ließen sie als Erfindungen der Gebrüder Lieberknecht beim Kaiserlichen Patentamt patentieren. 1880 trennten sich die Brüder. Theodor Cornelius Lieberknecht, der wohl Kreativere von beiden, übersiedelte 1881, dem Geburtsjahr seines Sohnes und meines Großvaters Paul Theodor Lieberknecht, nach Hohenstein-Ernsttahl und gründete dort seine Wirkmaschinenfabrik. Mein Großvater kannte den Strumpfmaschinenbau demnach von Kindesbeinen an und wuchs im Klima ständigen Weiterentwickelns dieser Technologie auf. Von seinem 15. Lebensjahr an war er im Strumpfmaschinenbau tätig und hat in den vielen Jahren seines „Wirkens“ eine außerordentlich schöpferische Tätigkeit entfaltet. 1904 konstruierte er in Hohenstein-Ernsttahl die erste Cottonmaschine mit neuem Fadenführer-Stoßdämpferpatent. Sie wurde später von Schubert & Salzer übernommen, als alleiniges Modell produziert und war als HSL-Maschine (Hohensteiner Schnellläufer) Jahrzehnte lang führend. 1909 heiratete er Elisabeth Nevoigt, Tochter einer ebenfalls angesehenen Chemnitzer Fabrikantenfamilie, und es wurden 1910 mein Vater Friedrich und 1911 sein Bruder Walter geboren. Als Strumpfmaschinenbauer hat er dann neben anderen Neuerungen die umwälzend wirkende Erfindung des ihm patentierten „Kettenkulierzeuges“ gemacht, das lange Zeit in fast allen Cottonmaschinenfabriken Europas angewandt wurde. In Einsiedel erfand er dann u.a. die in der Strumpfindustrie wiederum eine Umwälzung herbeiführende und berühmt gewordene „Combistrumpfherstellung“ auf Combi- und Fersenmaschinen. Der zweite Weltkrieg und die Zeit danach haben herbe Rückschläge und Enttäuschungen mit sich gebracht. 1952 entschloss er sich im Alter von 71 Jahren aufgrund der Bedingungen, die er hier hatte und auf Anraten der Brüder Ernst und Johannes Bahner (ELBEO) in den Westen nach Mannheim überzusiedeln, was damals für kurze Zeit möglich war. Die Idee war, mit meinem Vater, der ebenfalls eine internationale Ausbildung als Maschinenbauingenieur und Diplom Volkswirt hatte und wegen der Heirat mit meiner Mutter bereits im Westen lebte, einen unternehmerischen Neuanfang zu erreichen. Die Chancen schienen zunächst aussichtsreich zu sein. Paul Lieberknecht war in der mittlerweile im Westen operierenden Branche ein Begriff, die Patente waren immer noch wertvoll. Außerdem arbeitete und forschte er auch in Mannheim weiter an einer im Zweitakt arbeitenden Cottonmaschine. Mit 75 Jahren hatten seine Patente und patentamtlichen Schutzrechte schließlich die stattliche Zahl von 75 erreicht. Doch der plötzliche und unerwartete Tod meines Vaters 1954 im Alter von 44 Jahren an Spätfolgen des Krieges machte jegliche Zukunftsperspektive zunichte. Der alte Herr verlor nun den Mut und die Zuversicht, er schätzte wohl auch die technische Entwicklung des Strumpfmaschinenbaus nicht mehr richtig ein und verstarb 80-jährig beim Mittagsschlaf. Meine Großmutter lebte noch 20 Jahre länger in Mannheim und war eine Ikone meiner Kindheit. Dies ist eine lange Antwort aber nur eine Kurzfassung dessen, was die Höhen und Tiefen der Familie Lieberknecht ausmacht.

K.R.:
Chemnitz war vor dem Krieg eine prosperierende Stadt des Textil- und Werkzeugmaschinenbaus. Allein Richard Hartmann hatte um 1900 im Lokomotivbau 6.000 Beschäftigte. Die Auto-Union wurde 1932 in Chemnitz gegründet, heute wissen viele im Westen nicht, woher die vier Ringe des Audi-Logos eigentlich stammen. Man nannte Chemnitz das „Sächsische Manchester“, und die Stadt hatte 1936 einmal 360.000 Einwohner. Die Geschichte Ihrer Familie beschreibt an einem Beispiel die Abwanderung vieler fähiger Köpfe, die unmittelbar mit dem Ende des Krieges durch die ungewisse Perspektive für private Unternehmen in der sowjetischen Besatzungszone begann. Leider hat es die Politik bis heute nicht geschafft, die Abwanderung von jungen, kreativen Menschen aufzuhalten oder in eine Zuwanderung umzukehren, weiterhin ein schmerzlicher Verlust für die Region. Seit wann und unter welchen Umständen haben Sie Weg zurück zu den Wurzeln Ihrer Familie gesucht?

R.L.:
Da mein Vater früh verstarb, ich kann mich bis auf wenige kleine Momente kaum an ihn erinnern, wurden meine Großeltern wichtige Bezugspersonen für mich. Ihre Bilder, Beschreibungen und Geschichten um das Leben im Einsiedler Haus haben meine Kindheit geprägt. Ich habe ihre Wehmut gespürt, nicht mehr dahin zurückkehren zu können. Oft gab es Gespräche über die politische Zukunft in Ost und West, denen ich als etwa 9jähiger Junge zugehört habe, vieles nicht verstehend aber mir ist die Zuversicht meiner Großeltern gut in Erinnerung, dass sie selbst nicht mehr aber ich später einmal im Einsiedler Haus leben würde. Mit der gleichen ungebrochenen Zuversicht bat mich meine Großmutter Jahrzehnte später, kurz vor ihrem Tod 1980, dass ich bitte die große Hängebuche vor dem Haus Einsiedel nicht fällen sollte, denn das sei ein besonders wertvoller Baum. Niemand hat damals die Wende vorhersehen können. Ich selbst hatte als junger bildender Künstler ganz andere Ziele, lebte in Berlin, war in England und Amerika unterwegs, und doch brauchte es nur weitere neun Jahre, bis ich zwischen Weihnachten und Neujahr 1989/90 das erste Mal vor dem Gartentor des Einsiedler Anwesens stand, ohne mich zu trauen, das Gelände zu betreten. Ein Freund, der mich bei einem weiteren Besuch kurz danach begleitete, sagte: Du musst da rein gehen, nur dann wirst du spüren, ob es was mit dir zu tun hat. Und es hatte in der Tat mit mir zu tun, es traf mich wie ein Blitz, ich konnte körperlich spüren, wie ich durch meine Schuhsohlen hindurch Wurzeln schlug. Ich wusste auf Anhieb, hier gehörst du hin.

K.R.:
Kommen wir nun auf einige Besonderheiten Ihres Hauses zu sprechen. Nach der Flurstücksbezeichnung und auch nach der Postanschrift gehört Ihr Anwesen zu Einsiedel. In unmittelbarer Nähe zum Gasthof „Goldener Hahn“ gelegen, fühlen Sie sich aber auch eng mit Altenhain verbunden. Gab es damit schon mal Probleme?

R.L.:
Mein Großvater hat 1927 beim Gemeindeamt Einsiedel Antrag auf Errichtung eines Wohnhauses gestellt. Im Beschluss des Gemeinderates vom 2.6.1927 heißt es: „Gegen den Bau des Wohnhauses an der Zschopauer Straße durch Herrn Fabrikdirektor Lieberknecht beschließt der Ausschuss, Bedenken nicht zu erheben und Bedingungen nicht zu stellen. Die Versorgung mit Gas und Wasser und die Leistung von Polizeischutz wird abgelehnt.“ Auf die Versorgung mit Gas und Wasser hat er dann verzichtet, weil die Versorgung durch Einsiedel damals ohnehin nicht möglich war. Den nächtlichen Polizeischutz und Wachtdienst hat er nach persönlichen Verhandlungen mit der Gemeinde Altenhain von dort bekommen, allerdings gegen die Entrichtung von jährlich 100,- Mark. Und bei einem Schwelbrand am 6. Mai 1931, bei dem das Haus um ein Haar in Flammen aufgegangen wäre, haben die Altenhainer- und die Einsiedler Feuerwehr in kongenialem Zusammenwirken das Schlimmste verhindert. Allerdings waren die Altenhainer schneller da. Auf der Grenze zwischen Einsiedel und Altenhain lebt man also in doppelter Obhut. Für mich ist die Bezeichnung „Haus Einsiedel“ immer vertraut gewesen und der Begriff passt auch gut zu der Lebensart, die ich und meine Frau Claudia, die in Berlin im Bereich der darstellenden Kunst tätig ist, hier pflegen möchten.

K.R.:
Können Sie uns etwas zur Historie des Hauses erzählen? Wie haben Sie es bei Ihrer Rückkehr vorgefunden und was konnten Sie zur Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes erreichen?

R.L.:
Das Einfamilienhaus in Blockbauweise wurde als industriell vorgefertigtes Holzhaus im Auftrag des Bauherrn Paul Lieberknecht 1927 von der Herstellerfirma Christoph & Unmack aus Niesky errichtet. In Katalogen des Unternehmens ist es mit der Bezeichnung „Blockhaus Muskau“ als einer von ca. 40 kleineren und größeren Blockhaustypen verzeichnet. Christoph & Unmack gehörte bis etwa 1940 zu den führenden Unternehmen des industriell vorgefertigten Holzhausbaus. Bereits vor dem ersten Weltkrieg wurde in Niesky die Produktion von Fertighäusern entwickelt, und in den zwanziger Jahren zeichneten namhafte Architekten wie Poelzig, Scharoun und Wachsmann für Entwürfe einzelner Haustypen verantwortlich. Neben der „Blockbauweise“ wurden auch andere Baukonstruktionen entwickelt, wie z.B. die „Paneelbauweise “ oder der von Konrad Wachsmann während seiner Zeit als Chefarchitekt (1926-29) entwickelte „Spantenbau“. Hierfür gilt das für Albert Einstein in Caputh bei Potsdam errichtete Wohnhaus als wohl berühmtestes Beispiel. Für meinen Großvater, der mit seiner eigenen Arbeit immer technische Innovationen anstrebte, war es konsequent, nicht ein Haus in konventioneller Bauweise zu errichten, sondern auf das industrielle Bauen zu setzen. Häuser dieser Art wurden seinerzeit auf Weltausstellungen präsentiert.
Das „Blockhaus Muskau“ ist im Wesentlichen in Originalform erhalten. Schon 1927 gehörte es zum Standard des Unternehmens Christoph & Unmack, spezielle Wünsche des Bauherrn einzuarbeiten, und auch von Herstellerseite wurden verschiedene Varianten des Innenausbaus angeboten. Bei dem hier beschriebenen Gebäude sind geringfügige Grundrissänderungen, die den Wert des Originals aber nicht mindern, später hinzugekommen.

Auf dem 15.000 qm großen Grundstück wurde das Haus mit seiner Eingangsseite in Blickbeziehung zu Schloss Augustusburg ausgerichtet. Zur parkartigen Gestaltung des Gartens gehört darum ganz wesentlich die in axialer Beziehung zur Augustusburg stehende und als Einfahrt dienende Birkenallee. Die axiale Blickbeziehung zur Augustusburg ist Grundlage der architektonischen Gestaltung des Gesamtensembles von Haus und Park. Der parkartige Garten selbst mit wertvollem Baumbestand, einem mit Rhododendronbuschwerk eingefassten Rondell, einem Teich und verschiedenen Gartenbauwerken ist im Stil eines englischen Landschaftsgartens angelegt, wie überhaupt nach englischem Vorbild in den zwanziger Jahren das Wohnen im Grünen erstrebenswert wurde.

Ab 1952, dem Jahr der legalen Übersiedlung meiner Großeltern nach Mannheim, wurde die Verwaltung von Haus und Park zunächst durch eine von meinem Großvater beauftragte private Immobilienfirma geleistet und später bis 1990 nach den Gesetzen der DDR staatlich verwaltet. Über lange Zeit während der DDR-Ära wurde das Gebäude als Zweifamilienhaus vermietet. Die für das getrennte Wohnen von zwei Familien durchgeführten Ein- und Umbauten im Haus wurden nach Auflösung der Verwaltung 1990 und seit unter Denkmalschutzstellung von mir restlos zurückgebaut. Das Gebäude wurde dann in Abstimmung mit dem Denkmalschutz und mit der fachkundigen Hilfe des Tischlermeisters Johannes Weinhold aus Kleinolbersdorf saniert und weitgehend originalgetreu restauriert. Der Park wurde zu Zeiten der staatlichen Verwaltung vielfach unterteilt, glücklicherweise weitgehend mit Rücksicht auf den originalen alten Baumbestand. Auf den Teilflächen wurden von verschiedenen Pächtern Wochenendbungalows und Ferienhäuser errichtet. Nach Auflösung der Pachtverträge wurden seit 1993 die nicht zum Original gehörenden Baulichkeiten sukzessive entfernt und die Wiederherstellung der ursprünglichen gärtnerischen Gestaltung des Parks vorgenommen. Fehlende, baufällige und restaurierungsbedürftige Gartenbauwerke wie Brunnenhaus, Taubenhaus, Gewächshaus und Lustpavillon wurden ersetzt oder instand gesetzt. Insgesamt sind die bisher durchgeführten Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten an Gebäude und Park mit größtmöglicher Behutsamkeit und mit Sinn für den Wert des Originals durchgeführt worden. Entsprechend ist die Beurteilung der Denkmalschutzbehörden.

K.R.:
Faszinierend ist nicht nur das denkmalgeschützte Haus, sondern auch der weiträumige Park, bestückt mit einer Anzahl von Ihnen geschaffener Kunstwerke – den mechanischen Windspielen. Ist das jetzt der Endstand oder was haben Sie noch vor?

R.L.:
Bevor ich in England bildende Kunst studiert habe, hatte ich schon an der TU Berlin ein abgeschlossenes Architekturstudium absolviert. So bietet das Haus Einsiedel für mich die Gelegenheit, mich auf fast allen Gebieten von Kunst und Gestaltung im Sinne eines Gesamtkunstwerkes auszuleben. Da ist der aktive Denkmalschutz mit dem Ziel, im Respekt vor dem Original auch jetztzeitige Lebensformen zu konzipieren und baulich zu realisieren, da ist architektonische Gestaltung am Haus und an den Gartenbauwerken zu leisten. Im Haus selbst geht es um interior design, Lichtgestaltung, Möbeldesign, Farbgebung, etc., draußen um Garten- und Landschaftsgestaltung und schließlich um bildende Kunst, denn der parkartige Garten wächst mit der Zeit zu einem Skulpturenpark für meine eigenen Arbeiten und die von befreundeten Künstlerkollegen. Insbesondere meine windbewegten Skulpturen fühlen sich hier wohl, und es ist ein großes Glück, dass ich in großem Maßstab hier diesen hochrangigen Bezug zu den Energien von Natur und Landschaft habe. Von einem Endstand kann keine Rede sein. Ein Bauwerk ist nach Mies van der Rohe wie auch ein Garten ein lebendiger Organismus. Ein Künstler kennt zwar existenzielle Not, aber keine Arbeitslosigkeit noch kennt er den Ruhestand. Wenn sich bei ihm das Gefühl einstellt, alles geschafft zu haben, hat er sich nicht genug vorgenommen.

K.R.:
Wer einmal durch Südengland und besonders durch Cornwall reist, kann an vielen Orten gegen ein kleines Salär prächtig angelegte und gepflegte, private Gärten besichtigen. Wird es bei Ihnen hier auch einmal einen „Tag des offenen Gartens“ geben, an dem Besucher Ihre Kunstwerke im Park anschauen können?

R.L.:
Diese Frage kommt mir sehr gelegen. Meine Frau und ich kommen gerade von einer Englandreise zurück, bei der wir zahlreiche denkmalgeschützte Anwesen und Gärten in Kent, Devon und Cornwall besucht haben. Wir sind mit einer Menge neuer Ideen für Einsiedel zurückgekehrt. In England werden viele ehemalige oder noch private denkmalgeschützte Anwesen durch den National Trust gepflegt und betreut. Die Öffentlichkeit hat in begrenztem Maße Zugang und kann die Ästhetik dieser Orte genießen. Der National Trust ist eine der nationalen Stiftungen in England, die sich um den Erhalt und die öffentliche Vermittlung wertvoller Denkmäler kümmert. In Deutschland gibt es die „Deutsche Stiftung Denkmalschutz“. Dort werde ich mich einmal hinwenden. Ich habe vor kurzem dem Steueramt in Chemnitz vorgeschlagen, meinen Skulpturenpark, der ja Teil des denkmalgeschützen Ensembles ist, in einem zu billigendem Maße für eine interessierte Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um im Gegenzug eine Minderung der Grundsteuer zu erlangen. Dabei geht es um nicht sehr viel Geld, und die Gartenpflege muss ich ohnehin selbst leisten. Den Antrag habe ich schließlich wegen der zu erwartenden Erfolglosigkeit zurückgenommen. Unverständlich, aber es entwickelt sich trotzdem so, dass wir immer häufiger eine interessierte Fachöffentlichkeit zu Gast haben.

K.R.:
Herr Professor Lieberknecht, mit Ihrem Wirken in Essen und Chemnitz tragen Sie ein wenig bei zum Zusammenwachsen dessen, was zusammen gehört und früher zusammen war. Das ist erwähnenswert in einer Zeit, in der auch oft darüber gesprochen wird, was uns in Ost und West trennt. Wir danken Ihnen für das Gespräch und wünschen Ihnen eine gute Zeit sowohl in Essen als auch hier im Erzgebirge.

R.L.:
Ich bedanke mich auch und möchte zum Abschluss noch erwähnen, dass ich es als ein großes Glück empfinde, mich hier mental, künstlerisch und in Kommunikation mit den hier lebenden Menschen zu Hause zu fühlen.