Die Vermessung des Raumes
Aufzeichnungen zum Kunstwerk „Salto Mentale“ von Rolf Lieberknecht in der Bibliothek der Hochschule HTWK Leipzig, entworfen und geplant von Léon Wohlhage Wernik Architekten, fertiggestellt im Herbst 2009.
Verstärkt, verbessert, verändert die Kunst die Architektur? „Ich habe geholfen, die Architektur zu verstärken, ich habe beigetragen, einige Stellen, die mir besonders schwach und verwundbar vorkamen, auszubessern. Als ich zur Verstärkung aufgeboten wurde, war das Gebäude im wesentlichen schon erstellt, aber ich bin nicht weniger im Innern und unter den Erbauern gewesen.“ Nach dieser Aussage des Künstlers Remy Zaug muss man das wohl annehmen. In der Zusammenarbeit mit den Schweizer Architekten Atelier5 hat er sich als notwendiger Dienstleister verstanden, dessen Beitrag kaum als eigenständiges Werk wahrgenommen wird.
Ein anderes Beispiel ist die Zusammenarbeit des Architekten Adolf Krischanitz mit dem Künstler Helmut Federle für den jüdischen Kindergarten in Wien. Der Künstler entwickelt Fassadenfarbe und Materialität, ja das ganze Farbkonzept: Der Künstler als Kollege, als ein weiteres Mitglied im Planungsstaff.
Diesem Wunsch nach symbiotischer Verschmelzung von Kunst und Architektur steht das konfliktträchtige Verhältnis gegenüber. „Künstler sind eher störend für das eigene Werk…“ klagt der Architekt Tadao Ando. Er meint eine Arbeit von Richard Long, die vom Künstler direkt auf die weißen Wände des Naoshima Museums aufgebracht wurde, wohlgemerkt ein Museum für zeitgenössische Kunst.
Zwischen zwei gegensätzlichen Polen, Symbiose und Entfremdung, ließe sich das ambivalente Verhältnis von Nähe bei gleichzeitiger großer Distanz aufspannen. Doch Symbiose und Entfremdung sind kaum angemessene Beziehungen zwischen Kunst und Architektur. Inzwischen wird ein anderes Verhältnis propagiert: als das ultimative Credo gilt die befruchtende Zusammenarbeit der beiden Disziplinen, , bei der sich die Künstler auf die Spielregeln von Architektur und auf die Ansprüche ihrer Nutzer einlassen und auch die Architekten ihre Herrschaft über die Gestaltung von Räumen loslassen. Abgrenzung und ein bloßes Reagieren der Kunst auf die Vorgaben der Architektur hätte ein Ende, so die Kunstkritikerin Claudia Büttner.
Aber nehmen wir uns nicht gegenseitig die Luft weg, schnüren uns ein, beschränken uns in unseren Ausdrucksmöglichkeiten, wenn wir das Kooperative, das Gemeinsame betonen? Sollten wir nicht lieber unsere Eigenarten pflegen und uns gegenseitig den Raum lassen zu agieren? Ganz unabhängig von der Chronologie der Abläufe fordern der Ort und das Thema eine Bezugnahme von Architektur und Kunst. Doch darüber hinaus bedürfen beide Disziplinen ihrer Autonomie und im besten Falle ergeben sich gemeinsame Schwingungen.
Als Rolf Lieberknecht auf den Plan trat, stand unser architektonisches Konzept bereits. Die Bibliothek war entworfen, durchgeplant und im Bau. Der Künstler wurde zu einem Zeitpunkt involviert, als die räumliche Disposition schon klar zu erkennen war. Das räumliche Grundkonzept und die Fassaden standen nicht zur Debatte, das war kaum noch möglich und nicht gewollt. Auch die technischen Bedingungen des Bauwerks mussten beachtet werden. Ein Eingreifen des Künstlers war ansonsten überall möglich, ohne Einschränkung oder Vorgabe. Wir haben umgekehrt auch keinen Anspruch auf Einmischung in die Arbeit des Künstlers erhoben. Treu der Weisung haben wir seine Vorgaben in unsere Ausführungspläne eingetragen. Während der Architekt den Raum frei gibt, bezieht sich der Künstler auf den Raum als „etwas Gefundenes“.
Kunst am Bau war nur der Rahmen und ein finanzieller Posten, der einen Einstieg in die Zusammenarbeit bot. Das Programm verschaffte lediglich die Gelegenheit, die es zu nutzen galt. Über einen geladenen Wettbewerb näherten sich Architekten und Bauherren, gemeinsam mit den Nutzern und Künstlervertretern der Frage nach einem künstlerischen Beitrag zum Haus. Das war keine verordnete Ehe mit dem Zwang, etwas gemeinsam machen zu müssen, das Bedürfnis erzeugt, sich voneinander abzugrenzen.
Statt Vereinigung war eher ein Erkennen von Andersartigkeit angestrebt: Neugierde, Aufmerksamkeit, Großzügigkeit, aber auch Lust auf Reibung hat das Projekt getragen. Als Partner in diesem Prozess muss ich übrigens nicht alles verstehen, kann das Zusammenspiel einfach laufen lassen, den Vortritt lassen. Insofern wird der Künstler zum Mitspieler, der nicht im Sinne des Architekten weiterdenkt, sondern eine neue Sichtweise entwickelt auf das Vorgefundene als Ausgangsbasis seiner Arbeit. Insofern verändert sich hierbei die Arbeitsweise der Künstler und nähert sich der des Architekten an. Denn der Arbeit des Architekten liegt die Auseinandersetzung mit dem Ort und dem Programm stets zugrunde.
Der Künstler Rolf Lieberknecht konnte sich auf den Raum, auf die Architektur und auf die geplante Nutzung einlassen. Nicht zufällig hat er die Räume in der Bibliothek bespielt, die auch für uns am wichtigsten waren: die hohen, doppelgeschossigen Lesesäle.
Sie sind wie eigene, kleine Zentren im Hause verteilt und stehen in einer nicht offensichtlichen Beziehung zueinander. Nach außen öffnen sich die Lesesäle mit übergroßen Fenster zur Stadt und präsentieren sich als Bezugsraum in die Öffentlichkeit.
Gerade in den Lesesälen hätte die Kunst auch zu viel sein können: massive Betonwände, eine Komposition aus Öffnungen, weite Ausblicke dazu noch die kräftigen Farben der Wandflächen. Können die filigranen Objekte von Rolf Lieberknecht gegen die Komposition des Raumes bestehen? Das Wagnis hat sich gelohnt und nun zeigt sich das Zusammenspiel von architektonischem Raum und kinetischem Objekt als Stärke.
Das Objekt verändert sich in der Umgebung und der Raum wandelt sich mit dem Objekt. Das ist einerseits erstaunlich und unverhofft, aber auch offensichtlich. Wir kennen die großen beweglichen Objekte von Rolf Lieberknecht aus dem Freiraum. Dort scheinen sie in weiten Bögen strahlenförmig den Raum zwischen Himmel und Erde zu beschreiben oder andere wiederum scheinen in kleinen Bewegungen den Raum flach und erdnah neu zu vermessen. Umgekehrt betrachtet, vom Objekt in den Raum, ermöglichen die Spitzen der Objekte einen neuen Blick auf die Welt. So ist es nur folgerichtig, dass Rolf Lieberknecht in einer jüngeren Arbeit diesem Blick auf die Spur kommen will. Eine winzig kleine Kamera fängt von der Spitze aus den Blick in die Welt ein und projiziert dieses Bild auf eine große Leinwand. Wie mit einer „Speerspitze“ markiert die Kamera Orte, was einem den etymologischen Zusammenhang von Ort auf Speerspitze bildlich verdeutlicht.
In allen drei Lesesälen der Bibliothek entwickeln diese „Vermessungsinstrumente“ eine beunruhigende und gleichsam ruhige Kraft. Die filigrane Zartheit der Konstruktion mit sanft schwingenden Bewegungen ist von meditativer Präsenz. Vier Stäbe vermessen dreidimensional den Raum. Man wartet geradezu darauf, dass die Spitzen womöglich die Raumgrenzen streifen, an der farbigen Betonwand entlang kratzen, dass Objekt und Raumgrenze kollidieren. Aber das passiert natürlich nicht. Die weiteste Auslegung ist die Breite des Raumes. Rolf Lieberknecht hat die Dimensionen genauestens austariert. Hier kommt der Präzisionsfachmann, der Feinmotoriker, der klare Rationalist zum Vorschein. Hier wird das Erbe seines Großvaters Paul sichtbar, Strumpfmaschinenerfinder und Textilfabrikant. Man muss sich hierzu nur die wunderbaren Konstruktionszeichnungen zu seinem Werk „Salto Mentale“ anschauen.
Noch etwas anderes unterscheidet das kinetischen Objekt „Salto Mentale“ von den Skulpturen im Freiraum: sie hängen. Natürlich hat das etwas Erhabenes und gleichzeitig etwas Beunruhigendes. Das bewegliche Objekt zieht den Blick nach oben, er bleibt haften. Und vielleicht nimmt man erst dadurch den extremen Raumzuschnitt des Lesesaals wirklich wahr. So sind aus der fixen Perspektive am Lesetisch ambivalente Wahrnehmungen möglich: denn im Kontrast zum Blick nach außen, zur vitalen Stadt, zur Öffentlichkeit steht eine meditative Innensicht.
Man ist immer wieder versucht, einen idealen Moment der Bewegung festhalten zu wollen. Wenn die Perfektion einer bestimmten Geometrie zutage tritt, verschwindet der Augenblick, schnell im Prozess der Wandlung, lässt sich nicht halten oder einfangen. Die Bewegungen können ihren Rahmen nicht sprengen und dennoch ist jede Bewegung, jede Beziehung der vier Stäbe zueinander einmalig und damit unendlich. Ein Rapport bleibt verborgen. Dem kontemplativen Nachsinnen dieser verborgenen Logik mag eine neue Phase der Konzentration folgen.
Für das Kunstwerk „Salto Mentale“ gibt es einen unendlich weiten Spielraum von Interpretationen, analog zu den möglichen Bewegungsbildern. Und so schimmert hier durch, was Umberto Eco in der Poetik des offenen Kunstwerks über die Qualität von zeitgenössischer Kunst beschreibt: „Im Grunde ist eine Form ästhetisch gültig gerade insofern, als sie unter vielfachen Perspektiven gesehen und aufgefasst werden kann und dabei eine Vielfalt von Aspekten und Resonanzen manifestiert, ohne jemals aufzuhören, sie selbst zu sein. In diesem Sinne also ist ein Kunstwerk, eine in ihrer Perfektion eines vollkommen ausgewogenen Organismus vollendete und geschlossene Form, doch auch offen, kann auf tausend verschiedene Arten interpretiert werden, ohne dass seine unwiederholbare Einmaligkeit davon angetastet würde. Jede Rezeption ist so eine Interpretation und Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in einer originellen Perspektive neu auflebt.“
Natürlich gilt dieser Aspekt des Offenen ebenso für die Architektur. Deswegen nehmen sich beide Disziplinen Raum zum eigenen Spiel. Beim Loslassen kann der Ausbruch aus der eigenen Ideenwelt gelingen. Das funktioniert nur in Autonomie und nicht in einer Symbiose. Die Grundlage und Voraussetzung hierfür ist ein Vertrauensvorschuss. Dann kann sich in dem Gegenüberstehen von Themen, in der Eigenständigkeit, in dem Anerkennen der Andersartigkeit eine überspringende Erregung entwickeln.