Hilde Léon: Die Vermessung des Raumes

Die Vermessung des Raumes
Aufzeichnungen zum Kunstwerk „Salto Mentale“ von Rolf Lieberknecht in der Bibliothek der Hochschule HTWK Leipzig, entworfen und geplant von Léon Wohlhage Wernik Architekten, fertiggestellt im Herbst 2009.

Verstärkt, verbessert, verändert die Kunst die Architektur? „Ich habe geholfen, die Architektur zu verstärken, ich habe beigetragen, einige Stellen, die mir besonders schwach und verwundbar vorkamen, auszubessern. Als ich zur Verstärkung aufgeboten wurde, war das Gebäude im wesentlichen schon erstellt, aber ich bin nicht weniger im Innern und unter den Erbauern gewesen.“ Nach dieser Aussage des Künstlers Remy Zaug muss man das wohl annehmen. In der Zusammenarbeit mit den Schweizer Architekten Atelier5 hat er sich als notwendiger Dienstleister verstanden, dessen Beitrag kaum als eigenständiges Werk wahrgenommen wird.

Ein anderes Beispiel ist die Zusammenarbeit des Architekten Adolf Krischanitz mit dem Künstler Helmut Federle für den jüdischen Kindergarten in Wien. Der Künstler entwickelt Fassadenfarbe und Materialität, ja das ganze Farbkonzept: Der Künstler als Kollege, als ein weiteres Mitglied im Planungsstaff.

Diesem Wunsch nach symbiotischer Verschmelzung von Kunst und Architektur steht das konfliktträchtige Verhältnis gegenüber. „Künstler sind eher störend für das eigene Werk…“ klagt der Architekt Tadao Ando. Er meint eine Arbeit von Richard Long, die vom Künstler direkt auf die weißen Wände des Naoshima Museums aufgebracht wurde, wohlgemerkt ein Museum für zeitgenössische Kunst.

Zwischen zwei gegensätzlichen Polen, Symbiose und Entfremdung, ließe sich das ambivalente Verhältnis von Nähe bei gleichzeitiger großer Distanz aufspannen. Doch Symbiose und Entfremdung sind kaum angemessene Beziehungen zwischen Kunst und Architektur. Inzwischen wird ein anderes Verhältnis propagiert: als das ultimative Credo gilt die befruchtende Zusammenarbeit der beiden Disziplinen, , bei der sich die Künstler auf die Spielregeln von Architektur und auf die Ansprüche ihrer Nutzer einlassen und auch die Architekten ihre Herrschaft über die Gestaltung von Räumen loslassen. Abgrenzung und ein bloßes Reagieren der Kunst auf die Vorgaben der Architektur hätte ein Ende, so die Kunstkritikerin Claudia Büttner.

Aber nehmen wir uns nicht gegenseitig die Luft weg, schnüren uns ein, beschränken uns in unseren Ausdrucksmöglichkeiten, wenn wir das Kooperative, das Gemeinsame betonen? Sollten wir nicht lieber unsere Eigenarten pflegen und uns gegenseitig den Raum lassen zu agieren? Ganz unabhängig von der Chronologie der Abläufe fordern der Ort und das Thema eine Bezugnahme von Architektur und Kunst. Doch darüber hinaus bedürfen beide Disziplinen ihrer Autonomie und im besten Falle ergeben sich gemeinsame Schwingungen.

Als Rolf Lieberknecht auf den Plan trat, stand unser architektonisches Konzept bereits. Die Bibliothek war entworfen, durchgeplant und im Bau. Der Künstler wurde zu einem Zeitpunkt involviert, als die räumliche Disposition schon klar zu erkennen war. Das räumliche Grundkonzept und die Fassaden standen nicht zur Debatte, das war kaum noch möglich und nicht gewollt. Auch die technischen Bedingungen des Bauwerks mussten beachtet werden. Ein Eingreifen des Künstlers war ansonsten überall möglich, ohne Einschränkung oder Vorgabe. Wir haben umgekehrt auch keinen Anspruch auf Einmischung in die Arbeit des Künstlers erhoben. Treu der Weisung haben wir seine Vorgaben in unsere Ausführungspläne eingetragen. Während der Architekt den Raum frei gibt, bezieht sich der Künstler auf den Raum als „etwas Gefundenes“.

Kunst am Bau war nur der Rahmen und ein finanzieller Posten, der einen Einstieg in die Zusammenarbeit bot. Das Programm verschaffte lediglich die Gelegenheit, die es zu nutzen galt. Über einen geladenen Wettbewerb näherten sich Architekten und Bauherren, gemeinsam mit den Nutzern und Künstlervertretern der Frage nach einem künstlerischen Beitrag zum Haus. Das war keine verordnete Ehe mit dem Zwang, etwas gemeinsam machen zu müssen, das Bedürfnis erzeugt, sich voneinander abzugrenzen.

Statt Vereinigung war eher ein Erkennen von Andersartigkeit angestrebt: Neugierde, Aufmerksamkeit, Großzügigkeit, aber auch Lust auf Reibung hat das Projekt getragen. Als Partner in diesem Prozess muss ich übrigens nicht alles verstehen, kann das Zusammenspiel einfach laufen lassen, den Vortritt lassen. Insofern wird der Künstler zum Mitspieler, der nicht im Sinne des Architekten weiterdenkt, sondern eine neue Sichtweise entwickelt auf das Vorgefundene als Ausgangsbasis seiner Arbeit. Insofern verändert sich hierbei die Arbeitsweise der Künstler und nähert sich der des Architekten an. Denn der Arbeit des Architekten liegt die Auseinandersetzung mit dem Ort und dem Programm stets zugrunde.

Der Künstler Rolf Lieberknecht konnte sich auf den Raum, auf die Architektur und auf die geplante Nutzung einlassen. Nicht zufällig hat er die Räume in der Bibliothek bespielt, die auch für uns am wichtigsten waren: die hohen, doppelgeschossigen Lesesäle.

Sie sind wie eigene, kleine Zentren im Hause verteilt und stehen in einer nicht offensichtlichen Beziehung zueinander. Nach außen öffnen sich die Lesesäle mit übergroßen Fenster zur Stadt und präsentieren sich als Bezugsraum in die Öffentlichkeit.

Gerade in den Lesesälen hätte die Kunst auch zu viel sein können: massive Betonwände, eine Komposition aus Öffnungen, weite Ausblicke dazu noch die kräftigen Farben der Wandflächen. Können die filigranen Objekte von Rolf Lieberknecht gegen die Komposition des Raumes bestehen? Das Wagnis hat sich gelohnt und nun zeigt sich das Zusammenspiel von architektonischem Raum und kinetischem Objekt als Stärke.

Das Objekt verändert sich in der Umgebung und der Raum wandelt sich mit dem Objekt. Das ist einerseits erstaunlich und unverhofft, aber auch offensichtlich. Wir kennen die großen beweglichen Objekte von Rolf Lieberknecht aus dem Freiraum. Dort scheinen sie in weiten Bögen strahlenförmig den Raum zwischen Himmel und Erde zu beschreiben oder andere wiederum scheinen in kleinen Bewegungen den Raum flach und erdnah neu zu vermessen. Umgekehrt betrachtet, vom Objekt in den Raum, ermöglichen die Spitzen der Objekte einen neuen Blick auf die Welt. So ist es nur folgerichtig, dass Rolf Lieberknecht in einer jüngeren Arbeit diesem Blick auf die Spur kommen will. Eine winzig kleine Kamera fängt von der Spitze aus den Blick in die Welt ein und projiziert dieses Bild auf eine große Leinwand. Wie mit einer „Speerspitze“ markiert die Kamera Orte, was einem den etymologischen Zusammenhang von Ort auf Speerspitze bildlich verdeutlicht.

In allen drei Lesesälen der Bibliothek entwickeln diese „Vermessungsinstrumente“ eine beunruhigende und gleichsam ruhige Kraft. Die filigrane Zartheit der Konstruktion mit sanft schwingenden Bewegungen ist von meditativer Präsenz. Vier Stäbe vermessen dreidimensional den Raum. Man wartet geradezu darauf, dass die Spitzen womöglich die Raumgrenzen streifen, an der farbigen Betonwand entlang kratzen, dass Objekt und Raumgrenze kollidieren. Aber das passiert natürlich nicht. Die weiteste Auslegung ist die Breite des Raumes. Rolf Lieberknecht hat die Dimensionen genauestens austariert. Hier kommt der Präzisionsfachmann, der Feinmotoriker, der klare Rationalist zum Vorschein. Hier wird das Erbe seines Großvaters Paul sichtbar, Strumpfmaschinenerfinder und Textilfabrikant. Man muss sich hierzu nur die wunderbaren Konstruktionszeichnungen zu seinem Werk „Salto Mentale“ anschauen.

Noch etwas anderes unterscheidet das kinetischen Objekt „Salto Mentale“ von den Skulpturen im Freiraum: sie hängen. Natürlich hat das etwas Erhabenes und gleichzeitig etwas Beunruhigendes. Das bewegliche Objekt zieht den Blick nach oben, er bleibt haften. Und vielleicht nimmt man erst dadurch den extremen Raumzuschnitt des Lesesaals wirklich wahr. So sind aus der fixen Perspektive am Lesetisch ambivalente Wahrnehmungen möglich: denn im Kontrast zum Blick nach außen, zur vitalen Stadt, zur Öffentlichkeit steht eine meditative Innensicht.

Man ist immer wieder versucht, einen idealen Moment der Bewegung festhalten zu wollen. Wenn die Perfektion einer bestimmten Geometrie zutage tritt, verschwindet der Augenblick, schnell im Prozess der Wandlung, lässt sich nicht halten oder einfangen. Die Bewegungen können ihren Rahmen nicht sprengen und dennoch ist jede Bewegung, jede Beziehung der vier Stäbe zueinander einmalig und damit unendlich. Ein Rapport bleibt verborgen. Dem kontemplativen Nachsinnen dieser verborgenen Logik mag eine neue Phase der Konzentration folgen.

Für das Kunstwerk „Salto Mentale“ gibt es einen unendlich weiten Spielraum von Interpretationen, analog zu den möglichen Bewegungsbildern. Und so schimmert hier durch, was Umberto Eco in der Poetik des offenen Kunstwerks über die Qualität von zeitgenössischer Kunst beschreibt: „Im Grunde ist eine Form ästhetisch gültig gerade insofern, als sie unter vielfachen Perspektiven gesehen und aufgefasst werden kann und dabei eine Vielfalt von Aspekten und Resonanzen manifestiert, ohne jemals aufzuhören, sie selbst zu sein. In diesem Sinne also ist ein Kunstwerk, eine in ihrer Perfektion eines vollkommen ausgewogenen Organismus vollendete und geschlossene Form, doch auch offen, kann auf tausend verschiedene Arten interpretiert werden, ohne dass seine unwiederholbare Einmaligkeit davon angetastet würde. Jede Rezeption ist so eine Interpretation und Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in einer originellen Perspektive neu auflebt.“

Natürlich gilt dieser Aspekt des Offenen ebenso für die Architektur. Deswegen nehmen sich beide Disziplinen Raum zum eigenen Spiel. Beim Loslassen kann der Ausbruch aus der eigenen Ideenwelt gelingen. Das funktioniert nur in Autonomie und nicht in einer Symbiose. Die Grundlage und Voraussetzung hierfür ist ein Vertrauensvorschuss. Dann kann sich in dem Gegenüberstehen von Themen, in der Eigenständigkeit, in dem Anerkennen der Andersartigkeit eine überspringende Erregung entwickeln.

Klaus Armbruster: Zu den Arbeiten von Rolf Lieberknecht

Präzision ist erforderlich, beim Reflektieren einer so präzisen Arbeit und Achtsamkeit ist angebracht beim Gebrauch von Worten angesichts dieser scheinbar wie von selbst in die Welt gekommenen und ganz sich selbst genügenden  Skulpturen eines Künstlers, der  im Kleinen wie im Großen seinen Ausdruck sucht, Form und Funktion im Kleinen wie im Großen zu fragiler Schönheit balanciert.

Ganz selbstverständlich in die Welt gekommen sind  diese kinetisch – skulpturalen Wesen in Wahrheit aber nicht. Sie sind, wie alle künstlerischen Äußerungen, auf  menschliche Kommunikation, auf Sehen, Zeigen und Gesehenwerden, auf Tat und Beobachtung, auf Voraus – und Nachdenken angewiesen und vielfach rückbezüglich aus alledem entstanden.
Ja,  ich denke, dass Rolf Lieberknecht es darauf anlegt, den Betrachter seiner Werk einzuladen zur Teilnahme an einem schöpferischen Prozess, der vom Künstler begründet  ausgelöst, sich erst durch Betrachtung sublim entfaltet und verwirklicht.

Erst durch unser Wahrnehmen kommt vollends in die Welt und genügt sich selbst, was er geschaffen hat.
Lassen Sie mich dem Wesen dieser Arbeit   nachspüren in Dimensionen, die sich mirin freier Assoziation beim Anschauen erschlossen.

Skulptur
Figur
Zeichnung
Zeichen
Linie
Fläche
Ruhe …

Zeit
Raum
Bewegung
Zeit-Raum-Bewegung
Bildertanz
Film
Vergänglichkeit …

Unendlichkeit
Natur
Licht
Schatten
Material
Konstruktion
Handwerk …

Drei mal sieben Dimensionen sind in loser Reihe aufgekommen und noch viele andere individuelle Resonanzen seiner Arbeit klingen an, bringen unvorhersehbar und lebhaft Wechselwirkungen hervor, und sind doch konkret und nachvollziehbar gebunden in jeder einzelnen Figur.

Skulptur – Figur – Zeichnung

Hier zeigt sich die im wahrsten Sinn des Wortes gewaltige Spannweite im Schaffen von Rolf Lieberknecht.
Wer seine haus – und baumhohen windkinetischen Stahlskulpturen in städtischen und naturnahen Außenräumen gesehen hat, wird dort bei aller Materialwucht, Statikrelevanz und ausgefeilter Lagertechnik die gleiche Anmut, Stille und luzide Einfachheit gefunden haben, die auch die hier gezeigten kleineren und kleinsten Arbeiten auszeichnen.
Dennoch würde keiner, der zu einer der großen Stahlskulpturen aufschaut und deren freies Spiel in Wind und Sonnenlicht, Wolkenzug und Architekturumfeld verfolgt, an Zeichnung denken, zu groß die Wucht metallischer Präsenz.
Doch im Maß des Innenraums, wo Materialien sich federleicht im Nichts verlieren, wo zarte Schattenlinien an den Wänden mit den Figuren grauwertig gleichgewichtig sich verflechten, wird die Dimension von Zeichnung evident.
Groß – und Kleinskulptur so weit gespannt und doch in Anmut, Stille, Einfachheit verwandt, sind ganz und gar dem Ort bestimmt, für den sie entworfen sind.

Ruhe – Bewegung – Zeit

Ruhe ist nicht der Zustand, für den die Skulpturen geschaffen sind und doch verharren sie, wenn kein Luftstrom auf sie wirkt, in schwerelos erwartungsvoller Ruhe. Ist diese Ruhe gestalterischer Ausgangspunkt, Ziel der Konzeption, erwartete Idealform oder nicht vermeidbar Zwischenfall?
Im schönen Doppelkatalog zur Ausstellung des verstorbenen Konrad Wohlhage und Rolf Lieberknechts, 2007 in der Berliner Galerie Inga Kondeyne, stehen den Abbildungen der Zeichnungen Wohlhages  Fotografien von Lieberknechts Skulpturen gegenüber wie dies bei dreidimensionalen Arbeiten unumgänglich ist.
Im Anhang bedankt sich der Künstler bei dem Fotografen Udo Hesse ( Zitat ) :
 „ für sein Talent, meine Skulpturen so sensibel und einfühlsam in das Medium Fotografie zu übertragen.“
Dies ist Udo Hesse so überzeugend gelungen, dass beim Betrachten der durch Fotografie in Ruhezustand versetzten Skulpturen in mir die Frage aufkam, ob den für das Spiel der Bewegung und unendliche Formenvielfalt entwickelten Skulpturen nicht doch eine von Rolf Lieberknecht gesuchte und bewusst oder  unbewusst gefundene Idealform innewohnt, die in einer der möglichen Ruhestellungen zum Vorschein kommt, als solche vom Fotografen aufgespürt, in ein entsprechendes Format gesetzt, und nun im Bild erfasst, der Vergänglichkeit enthoben?

Und doch ist Ruhe nicht der Zustand, für den die Skulpturen geschaffen sind, sie sind der Bewegung gewidmet, ausgelöst durch Wind, Raumluftdynamik oder Atemhauch. Erst im Fluss von Ruhe und Bewegung entfaltet ihre Aura sich, und da kommt unausweichlich Zeit als Dimension ins Spiel: Der statuarischen Ruhe zeichenhafter Ausgangsposition ist die choreografische Struktur zukünftiger Bewegungen so eingeschrieben, dass der Begriff Skulptur das Wesentliche zu fassen nicht mehr vermag.

Wir finden uns, sobald Bewegung anhebt, wie in den zeitbasierten Künsten Film, Tanz, Musik in rhythmisch gestaltete Zeiträume versetzt, die wir jedoch nur dann erfahren können, wenn wir selbst mit auf die Zeitachse gehen und die im Lauf der Zeitaus der Bewegung entstehenden Ereignisse von Formen -, Licht – und Schattenspiel auf uns wirken lassen.

Material – Konstruktion – Handwerk

Rolf Lieberknecht lädt uns – wie   eingangs schon bemerkt – als  Betrachter in die Vollendung seines künstlerischen Werkes ein und setzt damit den Weg fort, den er schon als junger Künstler auch an der Seite Otto Pienes gegangen ist. Mit Land Art  und  Sky Art Projekten, mit schwebenden und fliegenden Installationen, Raum interpretierenden Laser-Strahlen, archaisch schweren Wasser-Stein Skulpturen erforscht und reflektiert er die Urelemente Licht, Luft, Erde und  Wasser.

Wie bedeutend in seinem Arbeitsleben später große, luftbewegte Stahl-Skulpturen für ihn werden würden, wusste er 1972 – 73  vielleicht noch  nicht, als er aus Stahl betörend schöne kinetische Konstruktionen und Knoten zur Bewegungsübertragung baute, die sich auf seiner web-site finden lassen und sich im Rückblick nahtlos wie Vorboten späterer Taten in die Linie einer künstlerisch konsequenten Arbeit fügen. Ich nehme diese frühe Arbeit als Beleg dafür, dass auch sein Hang zur Perfektion, den er selbst immer wieder kritisch hinterfragt, bei ihm schon früh ästhetisch produktiv geworden war und bis heute eine der Kraftquellen seiner Arbeit geblieben ist.
 
Doch erst der Meister fand den Weg zur kleinen Form, die Material- und Technikaufwand nicht mehr braucht und doch so vollkommen, auch handwerklich vollkommen ist. Groß oder klein, technisch aufwändig oder schlicht, was er mit Kopf und Händen in die Welt bringt,  bewegt sich im Atem des beseelten Lebens.

Klaus Armbruster im Januar 2009 für Rolf Lieberknecht

Rolf Lieberknecht: „Anmerkung“

ANMERKUNG „Ich lobe den Tanz, denn er befreit den Menschen von der Schwere der Dinge
und verbindet das Individuum mit der Gemeinschaft“.
(Augustinus 354 – 430)

Die Ergebnisse meiner künstlerischen Befassungen als Ganzes sind höchst unterschiedlich.
Ich bin auf nichts festgelegt, entscheide Medium, Material, Technik, Format immer nach der
Angemessenheit für den Gedanken, die Idee, die Form.
Vielleicht ist das Gemeinsame aller Arbeiten das ihnen innewohnende Ereignis, das Veränderliche,
die Bewegung im Raum und in der Zeit. So ist allmählich aus dem Gemeinsamen
mein Thema geworden. Hier zeige ich ausschließlich kinetische Skulpturen, einige davon
zum ersten Mal öffentlich. Sie entfalten ihr dreidimensionales und raumgreifendes Bewegungsspiel
durch die Einwirkung von Windenergie, bei kleineren Arbeiten durch Luftzug oder einfach
durch den menschlichen Atem. Im statischen und dynamischen Wechsel von
Balance und Schwerkraft entstehen Choreografien von schwingenden, kreisenden und
pendelnden Bewegungen, unerwartet, spielerisch, langsam, leise und leicht. Dieser Qualität
von Bewegung gilt mein forschendes Suchen. Obgleich die Skulpturen in ihrer technischen
Konstruktion den Gesetzen der Physik folgen, in ihrer Struktur die Regeln des geometrischen
Raumes aufzeigen und in ihrer sachlichen Ästhetik eine geistige und verstandesmäßige
Nachvollziehbarkeit scheinbar anbieten, so wollen sie doch in ihrem künstlerischen Gehalt
als freie, dem Tänzerischen und Musikalischen verwandte Bewegungsimprovisationen, eher
von der Empfindung wahrgenommen und erkannt werden. Falls eine Interpretation nötig
wäre, könnte man sagen: Das „Langsame“ steht für eine kritische Position gegenüber
ständig wachsender Beschleunigung, das „Leise“, aus der Stille entwickelte, für das Verfeinern
der Wahrnehmung durch Konzentration und Besinnung und das schwerelose „Leichte“
für den sparsamen Gebrauch von Ressourcen, die Verwendung von Materialien und Energien
nach ökologischen Kriterien. Ich lobe die Bewegung in der bildenden Kunst,
denn sie befreit das Material von seiner Schwere und verbindet die Skulptur mit Raum
und Zeit.

Rolf Lieberknecht
COMMENTS “I praise dance, because it frees people from the weight of things and binds the
individual to society”.
(Augustine 354 – 430)

The results of my artistic efforts, taken as a whole, are highly varied. I am not bound to anything;
I decide on medium, material, technique and format according to their appropriateness
for my thoughts, for an idea, a form. Perhaps what is common to all my objects is an event
which takes place within, perpetual change, movement in space and time. Thus, in the
course of time, my theme has developed out of these common factors. Here, I am displaying
exclusively kinetic sculpture – some objects for the first time. They unfold their three-dimensional
space-grasping play of movement through wind energy, the smaller works through a
draught, or simply through human breath. Choreographies of swaying, circling, vibrating
movements – unexpected, playful, measured, soft and light, emerge from static and dynamic
changes in balance and gravity. It is this quality of movement that is the goal of my seeking.
Although the sculptures follow the laws of physics in their technical construction, the
laws of geometrical space in their structure and apparently offer an intellectually understandable
comprehensibility in their objective aesthetics, in the free improvisation, borrowed from
dance and music, which is their artistic form, they must be perceived and recognised from
the standpoint of emotion. If an interpretation is necessary, one could say: “measuredness”
stands for a criticism of continually growing acceleration, “soft”, developed from stillness,
stands for the refinement of perception through concentration and recollection and weightless
“light”, stands for the sparing use of resources, the employment of materials and energy on an
ecologically favourable basis. I praise movement in the Fine Arts for it frees
objects from their weight and relates sculpture to time and space.

Rolf Lieberknecht

Thomas Zaunschirm: Das Finden der Balance

Balance 2003
Material: Eisen, Federstahl, Messing
H: 50 cm, B: 40,3 cm, T: 40,3 cm

Balance 2003
Foto: Udo Hesse

DAS FINDEN DER BALANCE

Zu einer Skulptur von Rolf Lieberknecht

1. Eröffnung   Die „Balance“ (2003) wird in einem eleganten weißen Etui aufbewahrt. Nachdem
man die etwa 47 x 8 x 2 cm große Schachtel geöffnet hat, sieht man, eingebettet in einen
schwarz geriffelten Karton, ein transparentes Rohr, das an seinem Ende in einen 2,5 cm hohen
rostfarbenen Halbzylinder geschoben ist. Hebt man den Zylinder heraus, bemerkt man,
dass beide Teile ineinander Halt finden, weil die Rundung des Zylinders etwas über seine Hälfte
hinausgeht. Nachdem man die Teile voneinander getrennt hat, entdeckt man in dem gläsernen
Rohr zwei gleichlange dünne Stäbe: der etwas breitere ist aus Messing, der andere aus
Stahl. Man öffnet den Glaskorken und entnimmt die beiden 40,3 cm langen Elemente. Die Verpackung
stimmt einen auf das folgende ästhetische Ritual ein. Worauf es ankommt, sind die
drei verschiedenfarbigen Metallteile. Es ist wichtig, dass man die Skulptur als Ergebnis
einer Handlung versteht, da sie das Überraschungsmoment besser erschließt.
Der Bogen des liegenden Zylinderschnitts ist ein Sockel mit einem punktgroßen Loch. In diese
mittlere Öffnung passt der dünne, an beiden Enden zugespitzte Stahl. Bevor der etwas breitere
Messingstab darauf gelegt wird, sollte die Vertikale zur Ruhe gekommen sein. Die gleichlange
Horizontale ist in der Mitte leicht eingekerbt. Sie wird auf die Spitze der Vertikalen gelegt. Ist
der Grund nicht schief, kommt das System zur Ruhe. Nach einer Zeit der nachlassenden Aufmerksamkeit
nimmt man gelegentlich nur noch die schwebende Horizontale wahr. Das Ganze
hält, auch wenn es wie Mobiles (oder Stabiles) durch Bewegung im Umfeld, den schwingenden
Boden oder einen Windstoß ins Schwanken gerät und sich sogar um die Achse dreht. Einfach
gesagt, handelt es sich um eine kinetische Skulptur, die ihr Ziel in der Ruhe erreicht.2. Punkt und Kreise   Auch wenn der horizontale Stab auf der Vertikalen ruht, handelt es
sich mathematisch um die Kreuzung von zwei Geraden in einem Punkt. Beide sich biegenden
Geraden haben eine Schwankungsbreite möglicher Bewegungen. Sie beschreiben in der Mitte
mit dem Kreuzungspunkt und an den Enden kreisende Formen im Raum. Durch die minimale
Einkerbung auf der Unterseite des Messingstabes werden überraschend heftige Schwankungen
möglich, bevor das System abstürzt. „Es gibt Dinge, die den meisten Menschen unglaublich erscheinen, die nicht Mathematik studiert haben.“ Der Ausspruch soll von Archimedes (287– 217 v. Chr.), dem bedeutendsten
Mathematiker der Antike stammen. Nicht jeder hat Mathematik studiert, sodass die „Balance“
unglaublich wirkt. Sie zeigt auch in metaphorischer Weise, wie selbstverständlich es ist, seine
Balance zu gewinnen, und wie unvermittelt der Absturz folgen kann.
Als Archimedes Kreise in den Sand zeichnete, wurde er der Legende nach von einem römischen
Soldaten erschlagen, weil er diesen ermahnte: „Störe meine Kreise nicht“. Als erkenntnistheoretische
Weisheit gilt der „archimedische Punkt“. Darunter verstand der antike Denker den „absoluten Punkt“ außerhalb eines Versuchsaufbaues, der als unveränderbarer Hebelpunkt diente. Mit ihm könne man „ganz
alleine die Erde anheben, wenn man nur diesen einen festen Punkt und einen ausreichend langen
Hebel hätte“. Der Haken daran war, dass diese Utopie nur in einem geschlossenen Kosmos
als sinnvoll verstanden wird. Ein „quasi archimedisches System“ liegt dann vor, wenn
sich der Hebelpunkt in ein System der (nicht zu störenden) Kreise schiebt. In einem offenen
Universum gibt es keine Punkte außerhalb von Versuchsaufbauten (wie der Erde).
Archimedes’ Berechnungen waren naturgemäß durch das statische Weltbild seiner Zeit beschränkt.
Das Verhältnis von Flächeninhalten krummlinig begrenzter Flächen überprüfte er
nicht mathematisch, sondern praktisch. Er zeichnete derartige Flächen auf dünne Tafeln
und schnitt diese aus. Dann beschnitt er gleichdünne quadratische Flächen solange, bis diese
das gleiche Gewicht wie die unregelmäßig begrenzten Flächen hatten. Die Fläche eines
Quadrates konnte er berechnen und somit auf den Flächeninhalt von krummlinig begrenzten
Flächen schließen. Auf diese Weise diente das Gewicht der Überprüfung mathematischer Größenverhältnisse.
Archimedes bewies auch, dass sich der Umfang eines Kreises zu seinem
Durchmesser genauso verhält, wie die Fläche des Kreises zum Quadrat des Radius. Wir nennen
das π (Pi).

3. Symbolische Momente   Befindet sich die „Balance“ in Bewegung, sind ihre dynamischen
Zeichnungen kaum zu verfolgen. Auch wenn die Gravitation der entscheidende Faktor ist,
fasziniert gerade die sich ihr entziehende Leichtigkeit der Schnitte in dem raumzeitlichen Feld
der Anlage. Nicht die Schwerkraft bewirkt die Eindrücke gekrümmter (d.h. bewegt-zeitlicher)
Räumlichkeiten, sondern die Linien heben und senken sich unter dem eigenen Gewicht der
Vertikalen und Horizontalen. Erfassbar wird die Schwerkraft nur im Punkt, auf dem das Messing
aufliegt. Die Kräfte kommen von auswärts. Der archimedische Punkt ist nicht absolut, sondern
konkret. Der Punkt und der Hebel bringen nicht die Welt aus dem Lot, sondern umgekehrt.
Die Welt bewegt die Anordnung, und das Nachlassen der Einflüsse endet in der Balance.
Erreicht das System der Orthogonalen sein Gleichgewicht, wird die Geschichte der Bedeutungen
evoziert. Als der euklidisch-flache Raum durch die relativistische Physik (und Geometrie)
verabschiedet wurde, entwickelten sich seine Koordinaten für die Kunst zu einem Ordnungssystem.
Dabei orientierte man sich nicht zuletzt an esoterischen Traditionen. Piet Mondrian
strebte nach dem Ausgleich der widerstreitenden Polaritäten: Natur – Geist, weiblich – männlich,
negativ – positiv, Statik – Dynamik, Horizontale – Vertikale. Selbst dort, wo es im Werk
die formale Entsprechung nicht gab, wo der rechte Winkel nicht den mitbestimmenden Ausgleich
schuf, bediente sich der neue Geist der rigiden Dichotomie. Wassily Kandinsky, dem
wir feine Beobachtungen über Punkt und Linie zu Fläche (1926) verdanken, stürzt auch in die
typisch männliche ikonografische Zuweisung ab: die Horizontale wird zum liegenden passiven
Weiblichen, die Vertikale zum beweglichen, aktiven Männlichen. Wie weit wir von dieser
Sicht, in der die Waagerechte die unbewegliche Basis darstellt, entfernt sind, zeigt der Blick auf
die schwebende Eleganz der „Balance“: die schwingende Horizontale trägt nicht, sondern
wird getragen, sie ist nicht unten, sondern oben. Wir genießen ihre Bewegung und erfreuen
uns am Stillstand, in denen wir keinen Gegensatz, sondern Ergänzungen sehen.
Die „Balance“ wird nicht durch den auftrumpfenden Gestus der pathetischen Avantgarde
bestimmt, sondern von der symbolentlasteten Leichtigkeit spielerischer Weltsicht. Sie ist nicht
das Abbild ewiger Wahrheiten, sondern zeigt die heitere Umkehr der Kräfte. Die „Balance“
demonstriert nicht das starre Ende, sondern erfreut und erheitert durch ihre ständige Bereitschaft,
neue Impulse aufzunehmen.

Thomas Zaunschirm

FINDING YOUR BALANCE

About a sculpture by Rolf Lieberknecht

1. Opening   The “Balance” comes in an elegant white case with the measurements 47x8x2 cm.
As you open it, you see a transparent tube, embedded in a black cardboard. The tube rests in
a rust-coloured half-cylinder that encloses it far enough, so it can’t fall out. You can slide it out
sideways. The tube contains two thin rods, one made of steel, the other, slightly thicker, made
of brass. You open the glass cork on the tube and take them out. The packaging is an overture
to the ensuing aesthetic ritual. The essence of the sculpture lies in the three differently
coloured metal parts. It is important to see the sculpture as the result of a process. In this way,
the element of surprise is revealed more profoundly. The rounded part of the half-cylinder serves as
a pedestal. In the middle there is a minute hole for one of the tips of the thin steel rod. This vertical
part of the sculpture, or of the “Balance”, must be allowed to become completely still and
balanced before you put the wider brass rod horizontally on top. The brass rod is slightly
grooved in the middle and will come to rest on the upward tip of the steel rod. On an even
surface, the system will come to rest and stay in equilibrium. After some time of fading concentration,
all you will register is the floating horizontal. The sculpture remains basically stable
like a mobile (or stabile), although it may sway or even turn around its vertical axis with a
gust of wind or other movement around it. Put simply, the “Balance” is a kinetic sculpture
whose aim it is to remain still.

2. Point and circles   Even if the horizontal rod rests on the vertical one like in the letter
“T”, in mathematical terms we are dealing with the crossing of two straight lines in one point.
Both of these (bending) straight lines have a limited range of possible movements available
to them. They describe elliptical shapes around the anchored cross-point in the middle. The
small groove in the underside of the brass rod allows for surprisingly violent movement without
crashing the system. “There are things that seem unbelievable to
people who did not study mathematics”. This quote is attributed to Archimedes (287– 217 BC),
the most prominent mathematician of ancient times. To most of us who don’t have a degree in
mathematics, the “Balance” seems incredible. It shows in a metaphorical way how natural it is
to gain or regain your balance – and how sudden and unexpected the ensuing crash can be.
Legend has it that Archimedes was drawing circles in the sand and was killed by a Roman
soldier, because he told him: “Do not disturb my circles”. The “Archimedean point” is an essential
part of epistemological wisdom: The ancient thinker saw this point as an absolute point
outside of the experiment which served as a invariable reference point. It would be possible,
he said, to lift the earth by this one fixed point alone if one had a long enough lever. The problem
is that this utopia can only work in a closed universe. If the leverage or reference point is
moved inside a system of circles (which should not be disturbed), we have a “quasi Archimedean
system”. In an open universe there cannot be points outside
the experiment (like the earth, for example). Archimedes’ math was naturally limited by
the static world view of his time. He did not arrive at the area of a surface by mathematical
means, but by practical means. He drew the surfaces on thin tablets and cut them out. Then
he compared the weight of the tablets. So the weight served as a parameter for area. Archimedes
also proved that the circumference of a circle in relation to its diameter is the same as
the area of a circle in relation to the square of its radius. This is called π (Pi).

3. Symbolic Moments
   When the “Balance” is in motion, its dynamic drawings can hardly be
followed. Although gravity is the defining factor, the moves cut through the space-time scope
defying gravity. It is not gravity which creates the impression of curved space, but the lines
themselves rise and fall with the weight of the vertical and the horizontal. Gravity is only tangible
in the one spot where the brass rod touches the steel. The forces come from outside.
The “Archimedean point” ist not absolute, but real. The point and the lever do not throw
the world off balance, but it is the other way round: the world around it moves the system,
and the diminishing influence of outside forces will end in balance, in equilibrium.
As soon as the equilibrium is reached, the history of meaning is evoked. When the Euclidean
flat space was replaced by relativistic physics and geometry, its coordinates became a classification
system for the arts. Esoteric traditions were also a way of orientation. Piet Mondrian
strove for the reconcilliation of opposing forces: nature – spirit, female – male, negative – positive,
static – dynamic, horizontal – vertical. Even when there was no formal equivalent in the
works themselves, when right angles were not used to convey this reconcilliation, the new
mind still used this rigid dichotomy. Even Wassily Kandinsky, who gave us some delicate
observations about the relation of point and line to shape (1926), falls into the typically male
iconographic assignation: The horizontal is the passive, supporting female part, the vertical is
the active male part. One look at the floating elegance of the “Balance”
shows how far we have moved away from this view that the horizontal has to be the immobile
base. The mobile horizontal is not the supporting part, it is being supported. It is not
underneath, but on top. We are enjoying its movements and also, when it comes to rest,
the stillness. Movement and standstill are not opposites, but complement each other.
The “Balance” is not defined by the boastful posturing of a pathetic avantgarde but by the
lightness of a playful worldview, free from symbols. It is not an image of eternal truths but
shows a cheerful reversal of powers. The “Balance” does not demonstrate a fixed
conclusion, but delights us with its neverending readiness to react to a new impulse.

Thomas Zaunschirm

geb. 1943, Promotion und Habilitation in Salzburg Gastprofessuren an den Universitäten Zürich und Graz
1989-1994 Professor für Kunstgeschichte an der Universität Freiburg i.Br.
1995-2007 Professor für Neuere Kunstgeschichte/Kunstwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.
Zahlreiche Bücher zur Kunst der Moderne („Duchamp-Trilogie“, 1982-86) und Methodologie („Leitbilder“, 1993)

born 1943, he wrote his doctoral thesis and habilitation in Salzburg. He was a Guest Professor at
the Universities of Zürich and Graz.
1989-1994, he was Professor of the History of Art at the University of Freiburg i.Br..
From 1995-2007, he has been Professor of the History of Modern Art/Aesthetics at the University Duisburg-Essen.
He has published many books on Modern Art (“Duchamp-Triologie”, 1982-86) and Methodology (“Leitbilder”, 1993).

Ilse Middendorf: Zu der Skulptur „Balance“

Balance, 2003
Material: Eisen, Federstahl, Messing
H: 50 cm, B: 40,3 cm, T: 40,3 cm

Balance, 2003
Foto: Udo Hesse

ZU DER SKULPTUR „BALANCE“

Ein Kleinod steht auf meinem Schreibtisch. Es begleitet meinen Alltag, schwingend, bewegt, anregend,
beruhigend und nie ohne Bedeutung. Es steht auf der zuverlässigen Fläche eines halben
Zylinders im Umfang einer Fingerkuppe und mit einer lichten Mitte, aus der ein Stab nach oben
wächst – eine Linie, die das Auge entzückt und mich aufrichten lässt: „Wie aus Stahl“ – ja es ist
ein Stab aus Stahl, eindeutig, klar, schmucklos – und zielstrebig bis zum Punkt, der Halt gebietet.
Hier stockt kurz mein Atem, denn er wollte sich weiter nach oben richten. Das Wunder –
der Punkt – trägt hier eine zweite Linie aus Messing, die waagerecht in unendliche Weite
führt. Zwei Lebenselemente kreuzen sich hier, schneiden sich, vereinen sich. Im Wahrnehmen
der Richtung nach oben und unten lassen sie mich wesentliche vitale Kraft erfahren, die dem
senkrechten Lebensgefühl inne wohnt – und im Waagerechten dagegen erscheint die Fülle der
gestalteten Gegenwart.
Direkt und unerbittlich fordert mich die hohe Kunst dieses Werkes, das mich auch aus feinsten
Klängen der Zartheit anrührt. Rolf Lieberknecht gab ihm den Namen „Balance“. Das
klingt wie der Ruf einer Glocke und verweist das Wort „Gleichgewicht“ in die mehr mentale,
betrachtende Seite des Lebens mit der gleichzeitigen Einsicht, dass Worte die Bedeutung
des Werkes und sein inneres Wesen nicht mehr erreichen.
Im Schauen aber und im Lauschen lässt es mich atmen – einen Atem, der mir Fülle gibt,
mehr Kraft, mehr Stille – und leise entsteht ein Band zwischen dem Kunstwerk und mir. In der
partnerschaftlichen Schwingung entsteht das Glück, gemeinsam bewegt und im Gültigen angekommen
zu sein. Ist es verwunderlich, dass Heiterkeit aufkommt, dass das „Gewichtige“
leicht wird und die „Mitte“ dicht – und dass der ewige Ruhepol „Balance“ als Ruhe und Bewegung
vereint umschlossen ist?
Im Wechsel von Tun und Lassen hat die schöpferische Kraft den Kosmos sichtbar werden lassen
und schenkt der Materie das Erwachen zum bewussten Sein. Das Leibliche, unsere körperliche
Materie, noch immer im Unbewussten befangen, braucht Hingabe und Achtsamkeit,
um im Gleichgewicht die Seinskräfte von Seele und Geist zu ergänzen und die Lebendigkeit
aller Zellen zu bewirken. Hier möchte ich dem Schöpfer der „Balance“,
die auf meinem Schreibtisch steht und mir täglich Gespräche erlaubt, zutiefst danken.

Ilse Middendorf


OBSERVATIONS ON THE SCULPTURE “BALANCE”

A little treasure stands on my writing desk. It accompanies my day-to-day living – vibrating,
moving, inspiring, calming, but never without meaning. It stands on a solid half-cylinder base,
the size of a finger tip and with a central space out of which a rod grows upwards – a line that
entrances the eye and always gives me fresh heart: “As if made of steel” – it is indeed a steel
rod, unequivocal, clear, unornamented – and single-mindedly reaching towards the point
that gives it security. Here my breath falters an instant, for it was directed higher. The miracle,
the point, has a second brass line that stretches horizontally in endless expanse.
Two life elements cross one another here, intersect with one another and unite. Gazing upwards
and downwards, I experience the essential, vital power that dwells in the perpendicular
life feeling – the fullness of the created present exists in the horizontal.
The exalted art of this work that touches me with its most delicate tones of tenderness,
drives me on, directly and mercilessly. Rolf Lieberknecht named it “Balance”. This name
rings like the summons of a bell and its reference is to the mental, reflective side of life, although
it is obvious that words can never convey the meaning of this work and its inner
being.
In my gazing and listening, it allows me to breathe – a breath that gives me fullness, more
strength, more stillness – and very quietly, a band is forged between this work of art and me:
in the vibrations of partnership, the joy of moving together and achieving validity. Is it at all
surprising that happiness is born and “Balance”, uniting both calm and movement, brings
an everlasting peace?
In an alternation of action and non-action, the creative power made the cosmos visible and
endowed matter with an awakening to conscious being. The body, our physical matter,
still imprisoned in unconsciousness, needs attention and watchfulness to complement in
balance the powers of being in soul and mind and to awaken all cells to vitality.
Here, I would like to thank sincerely the artistic creator of the “Balance”, that stands on my
writing desk and still speaks to me every day.

Ilse Middendorf

geb. 1910, Begründerin der Lehre „Der Erfahrbare Atem“. Nach Ausbildungen in Gymnastik,
Tanz und verschiedenen Formen der Leibtherapie, langjährige Arbeit mit C. Veening
1965 Gründerin und Leiterin des Instituts für Atempädagogik und -therapie, das heute als Ilse-
Middendorf-Institute für den Erfahrbaren Atem mit Sitz in Berlin und in Beerfelden (Odw., Inh. Helge
Langguth) bekannt ist
Ab 1965 Lehrtätigkeit und von 1971-1975 Professur für Atem, Ton und Sprache an der
Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Berlin.
Bis heute Mitarbeit an vielen Institutionen im In- und Ausland.
Autorin der Bücher: „Der Erfahrbare Atem – Eine Atemlehre“ / Der Erfahrbare Atem in seiner Substanz“
/ „Wesen und Wirken des Erfahrbaren Atems“ (Studie) / „Der Erfahrbare Atem und seine Bedeutung für den Menschen“
2009 verstorben in Berlin

born 1910, Founder of the movement “The Experienced Breath”.
After training in gymnastics and dance and different forms of physical therapy, many years of cooperative work with C. Veening.
In 1965, she founded the Institute of Breath Pedagogy and Therapy that is today the Ilse Middendorf Instituts of Breath Experience in Berlin and in Beerfelden (Dir. Helge Langguth).
Since 1965 lecturer and from 1971-1975 Professor at the Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Berlin.
Up until the present, collaborative work in many institutions at home and abroad. Publication of various books.
She died 2009 in Berlin

Rolf Lieberknecht: Network 2006/2007

Das künstlerische Medium der kinetischen Skulptur behandelt anders als das Medium des bewegten Bildes nicht das Erzählen einer Geschichte, sondern die meist abstrakte Darstellung des Veränderlichen und des Ereignishaften. Der statischen Dreidimensionalität von Masse und Raum wird als vierter Wert die Dimension der Bewegung in der Zeit hinzugefügt.

Die hier vorgestellte Skulptur entfaltet ihr dreidimensionales und raumgreifendes Bewegungsspiel durch die Einwirkung von Windenergie. Im statischen und dynamischen Wechsel von Balance und Schwerkraft entsteht eine Choreografie von schwingenden, kreisenden und pendelnden Bewegungen, unerwartet, spielerisch, langsam, leise und leicht. Obgleich die Skulptur in ihrer technischen Konstruktion den Gesetzen der Physik folgt, in ihrer Struktur die Regeln des geometrischen Raumes aufzeigt und in ihrer sachlichen Ästhetik eine geistige und verstandesmäßige Nachvollziehbarkeit scheinbar anbietet, so will sie doch in ihrem künstlerischen Gehalt als eine freie, dem Tänzerischen und Musikalischen verwandte Bewegungsimprovisation, mehr von der Empfindung wahrgenommen und erkannt werden.

Über einem schlanken vertikalen Basiselement ist auf senkrechter Achse ein sich bewegendes Mittelteil und darauf wiederum ein Flügel auf geneigter Achse beweglich gelagert. Die Elemente sind miteinander ausbalanciert und befinden sich im Zustand des Gleichgewichts untereinander. Die wechselnde Kraft des Windes erzeugt die Bewegung und bremst sie zugleich. Die Geometrie des Objektes gibt mit ihren vertikalen und horizontalen Richtungen der Choreografie ihre Struktur. Während des Bewegungsspiels gehen so freie offene Raumkonfigurationen in geometrisch geordnete Figuren fließend über. Die metallischen Oberflächen spiegeln in ihrer permanenten Richtungsänderung Licht und Farbe der Umgebung. Im Gitterwerk des Flügels entsteht ein kinetischer Moiré-Effekt.

Die Skulptur findet ihren Standort vor der Mensa der Technischen Universität Dresden und ist dort auf einer Freitreppe platziert. Leicht diagonal gestellt, ist sie auf einem schlanken Sockel plaziert, der in Bemessung und Farbigkeit der Treppe zugehörig ist und dessen Höhe mit der Terrassenhöhe identisch ist. So erscheint ihr Standort wie ein vorgelagerter Raumpunkt der Terrasse. Die Himmelsrichtungen aus denen der Wind weht und die Sonne scheint sind an diesem Standort ebenso günstig wie die Einsehbarkeit aus dem öffentlichen Straßenraum und insbesondere die Betrachtungsperspektiven für die Terrassengäste der Cafeteria.

Rolf Lieberknecht: Right Angle III, Windkinetische Skulptur, 2003

Zur Darstellung des Veränderlichen, des Ereignishaften in der „Zeit“ fügt die „Kinetische Kunst“ der Dreidimensionalität von Masse und Raum als vierten Wert die Dimension der Bewegung hinzu. Die im Eingangsbereich zur Mensa des Landesgymnasiums St. Afra in Meißen aufgestellte Skulptur – RIGHT ANGLE III – entfaltet ihre dreidimensionale und raumgreifende Wirkung durch die Bewegung ihrer windkinetischen Elemente. Im statischen und dynamischen Wechselspiel von Balance und Schwerkraft entsteht eine zeichenhaft lyrische Choreografie von schwingenden und kreisenden Rhythmen, unerwartet miteinander korrespondierend, eine tänzerische Improvisation, angeregt von der Energie des Windes.

Über einem leicht geneigten statischen Basiselement sind zwei pendelnde Flügel in gegenseitigem Gleichgewicht angeordnet. Die leichte Schrägstellung richtet den Bewegungsraum harmonisch aus, mindert die statische und steigert die dynamische Anmutung. Die wechselnde Kraft des Windes erzeugt Bewegung und bremst sie zugleich. Ein bewegliches Element schwingt auf einem sich schon bewegenden Element, ihre Bewegungen addieren sich unaufhörlich im Raum. Die “innere Geometrie“ des Objektes gibt mit ihren vertikalen und horizontalen Richtungen der Choreografie ihre Struktur. Während des freien Bewegungsspiels werden so immer wieder geordnete Raumkonfigurationen gebildet. Die metallischen Flächen spiegeln in ihrer permanenten Richtungsänderung Licht und Farbe der Umgebung.

Der künstlerische Sinn der Skulptur liegt wesentlich in der Bewegung. Ihre Eigenart ist langsam, leise und leicht und falls eine Interpretation nötig wäre, könnte man sagen: Das „Langsame“ steht für eine kritische Position gegenüber ständig wachsender Beschleunigung aller Lebensbereiche, das „Leise“, aus der Stille entwickelte, steht für das Verfeinern der Wahrnehmung durch Konzentration und Besinnung und das „Leichte“ schwerelose steht für den sparsamen Gebrauch von Ressourcen, die Verwendung von Materialien und Energien nach ökologischen Kriterien.

Die Skulptur findet ihren Standort am Beginn der Treppe zum Innenhof der Mensa. Während des Bewegungsablaufs kommen immer wieder abwärts und aufwärts gerichtete Phasen vor. Die Skulptur ist an ihrem Standort so ausgerichtet, daß sie mit diesen Bewegungsgesten zwischen tiefer liegendem Innenhof und höher liegendem Vorfeld Beziehung herstellt. Vom Innenhof her sind die Bewegungsfiguren gegen den Himmel zu sehen, von anderen Standpunkten aus betrachtet, wirkt die Skulptur als Zeichen mit Fernwirkung für den zentralen Ort der Mensa und reflektiert mit ihrer geometrischen Struktur die architektonische Sachlichkeit der umliegenden Bauten und mit ihrer weichen Bewegungscharakteristik die umgebende Landschaft.

Mit der Balance in der Bewegung vergleichbar, folgen die Proportionen der Skulptur einem ausgewogenen ästhetischen Prinzip. Die Länge des Basiselements und die Länge eines Flügels stehen im Verhältnis des „Goldenen Schnitt“ (The Golden Sektion) zueinander. Ebenso folgt das Verhältnis der Gesamthöhe der Skulptur zur Länge der Einzelelemente diesem harmonischen Verhältnis. In Zahlen ausgedrückt ist dieses Verhältnis mit 1:1,618 definiert.

Sophie an der Brügge und Rolf Lieberknecht: „Wandelgang“

„Wandelgang“ 2001

Eine Platzgestaltung in Leipzig
Mit Sophie an der Brügge und Cornelia Müller / Jan Wehberg, Lützow 7, Berlin

Der geformte Raum

In seiner Plazierung an stadträumlichen Sichtbezügen und Blicklinien orientiert, bildet „Der Wandelgang“ in leichter Schrägstellung und zur Eingangszone des Verlagsgebäudes raumgebend, die nördliche Kante des „Peterssteinplatzes“. In einer Synthese aus skulpturalem Environment, medialem Ereignis und architektonischem Raum sind künstlerische, erlebnishafte und funktionale Eigenschaften vereint. Zweimal vierzehn Lichtsäulen, in zwei Reihen hintereinander angeordnet, bilden einen langgestreckten rechteckigen Raum und tragen mit der Anmutung von Leichtigkeit und Balance eine steinerne horizontale Raumkante. Die Wirkung von beschwingter Leichtigkeit und ausbalanciertem Kräftespiel entsteht durch die besondere Art der Säulenstellung. Während die Lichtsäulen an ihrem Fußpunkt ungeniert und selbstbewußt aus der geordneten Reihung tanzen und dabei einer harmonischen Schwingung folgen, finden sie oben, wo sie in reduzierter Berührung die hohe Raumkante in der Schwebe halten, den gleichmäßigen Rhythmus auf der geraden Linie wieder. Sie stehen also in verschiedenen Richtungen schräg, und verformen den durch die Umgebung orthogonal definierten Raum nach innen wie nach außen. Im Inneren des Wandelgangs betritt man eine mit Sandsteinkieseln gefüllte Fläche. Das Gehen über dieses weiche, den Gleichgewichtssinn leicht und leise irritierende Material, mag zum Zweifel an der gewohnten Unverrückbarkeit des festen Bodens anregen. Nach oben ist der langestreckte Raum offen, ein Stück Himmel wird von der steinernen Kante wie ein Bild eingerahmt. Die luftig transparenten Säulenzwischenräume schließen sich in der schrägen Längsperspektive. Je nach Blickpunkt erscheint der Wandelgang geschlossen oder gibt den Durchblick frei auf den offenen Platz. In umgekehrter Richtung trifft der Blick auf eine Wand, die als ein visuell beruhigter Hintergrund den nördlichen Abschluß der gestalteten Platzfläche bildet. Nach Süden ausgerichtet, wird sie an sonnigen Tagen Projektionsfläche für die Schattenbilder von Säulen und wandelnden Passanten. Fast über die gesamte Länge ragt eine hölzerne Bank aus der Wand und verleiht dem Ort eine kontemplative Aufenthaltsqualität. Nach hinten geschützt sitzt man im Licht der Sonne, blickt durch den Wandelgang und hat die große offene Platzfläche mit ihrem grünen Gegenüber vor Augen, oder man sitzt am Caféhaustisch, wenn das Bistro an der Ecke ein paar Tische zwischen die Säulen gestellt hat. Und schließlich ist die Wand nicht ganz undurchsichtig. Eine Reihung kreisrunder Öffnungen läßt den gezielten Durchblick zu und ermöglicht unerwartete Entdeckungen in beiden Richtungen. Wir nennen sie in guter Tradition der Gartenkunst „Die kleine Neugierde.“

Das inszenierte Licht

Die quer zur Richtung des Wandelgangs verlaufenden Seitenflächen der Säulen sind über ihre gesamte Höhe mit indirekt strahlender Lichttechnik ausgerüstet. Durch Anstrahlung und Reflexion füllt das Licht die Säulenzwischenräume und das gesamte innere Volumen des Wandelgangs. Der tänzerischen Beschwingtheit der Säulenstellung gleich, gerät auch das Licht von Zeit zu Zeit und nicht allzu oft in langsame, leise und leichte Bewegung. Mit Naturphänomenen wie „Wetterleuchten“ oder „Nordlicht“ in zeitlupenartiger ”Entschleunigung” assoziierbar, schwingt das Licht golden abschwellend und silbrig aufglühend: eine Modulation von Hell und Dunkel, ein Nachleuchten des Tages an der Grenze zur Nacht.
Atmend, schwebend, fließend, könnten die Regieanweisungen für die Choreographie der lautlosen Lichtbewegung sein; andante, piano, pianissimo, will man das Lichtereignis mit den Tempi und Klangfarben einer musikalischen Komposition beschreiben. Die Inszenierung ist rechnergesteuert und wird zusätzlich von Wind- und Luftbewegungen über dem Platz animiert und dynamisiert. Die Gesetze des Zufalls gestalten so die Lichtwirkung ohne Wiederholungen. Bei mehr Wind wird das Andante zum Allegro, bei weniger zum Allegro moderato.

Brigitte Hammer: Die Kräfte der Welt suchen

oder wie ein Künstler seine Aufgabe findet
Gedanken zu den raumplastischen Projekten von Rolf Lieberknecht

Wer in Steglitz am denkmalgeschützten Auto-Pavillon aus den fünfziger Jahren vorbei auf die vom Kulturamt Steglitz genutzte Gründerzeit-Villa zugeht, passiert zwischen Pavillon und Schwartzscher Villa einen den Platzgrund durchschneidenden, in den Boden eingelassenen Streifen kobaltblauen Glases, der von unten mit Neonröhren zum Leuchten gebracht wird. Die Augen des erstaunten Betrachters folgen dem Verlauf des blauen Bandes, das in den Eingang des Büro- und Geschäftshauses – eines bemerkenswerten Bauwerkes des Architektenteams Assmann, Salomon & Scheidt – führt und dort, den Boden der beidseitig offen stehenden Aufzugkabine durchschneidend, auf eine rückwärtig angebrachte Spiegelfläche zuläuft, die das blaue Licht als leuchtende Linie wieder auf den Platz zurückspiegelt. Wenn der Besucher den Aufzug betritt und sich die Türen geschlossen haben, hebt sich das Stück blauen Bandes mit dem Bodensegment im Aufzug senkrecht nach oben und trägt das blaue Licht somit durch alle Etagen.
Dieses 1993 geschaffene Konzept von Rolf Lieberknecht zeigt in seiner schlichten, fast beiläufigen Erscheinungsform und seiner das Haus und den Platz überwindenden Räumlichkeit auf eindrucksvolle Weise die hochkomplexen Implikationen des Arbeits-prinzips des Künstlers und Architekten. Seine Eingriffe in Architektur und Raum sind diskret, aber nachhaltig und ungewöhnlich. Die Steglitzer Arbeit ist am Tage unauffällig und gewinnt mit zunehmender Dunkelheit an fast magischer Intensität.

Lichspur 1, Berlin 1992-93
Lichspur 1, Berlin 1992-93, Foto: Udo Hesse

Sie fügt sich ins Platzniveau und markiert doch eine deutliche Grenze, wenn man den Platz von der Schloßstraße her überquert (da muß man blitzschnell entscheiden, ob man seinen Fuß auf den blauen Streifen stellen mag oder den Schrittabstand so wählt, daß man nicht auf das Glas tritt), während sie den Besucher nahezu unmerklich ins Haus zieht, wenn er von der Grunewaldstraße her kommt, oder ihm die Entscheidung abverlangt, rechts oder links am Streifen vorbeizugehen, wozu der Passant sich in Sekundenschnelle seines Zieles bewußt werden muß.
Die Arbeiten mit Licht und seinen drei Grundqualitäten, seinen energetischen, expansiven und entmaterialisierenden Eigenschaften, bilden einen umfangreichen Komplex in Lieberknechts Oeuvre. Sein Umgang mit diesem Medium ist ebenso konkret wie raffiniert und betrifft sowohl seine „strahlende“ als auch seine „beleuchtende“ Funktion.

Für die erstere werden die Lichtquellen gestaltete Form, für die zweite unsichtbar; werden in einer Arbeit beide Funktionen verbunden – wie zum Beispiel im Lichtpendel für das Arbeitsamt in Berlin –, so finden wir immer eine formal bestechende, klare Gestalt, die die Forderung „form follows function“ überzeugend erfüllt.
Lieberknechts künstlerisches Hauptthema ist sein Umgang mit dem nahezu „materie-freien“ Material, für das er eine Gestaltung entwickeln muß, die dem energetischen Potential der Naturkräfte ein sichtbares Gebilde zuordnet. Seine Fragen an jene Ein-flüsse, die für uns unsichtbar sind und die wir nur durch ihre Wirkungen erfahren können, sind bildhaft und konkret: Welche Farbe hat der Wind? Welche Formen hat die Luft? Welche Gestalt zeigt das Licht? Welche Beschaffenheit bestimmt das Wasser?

Der Künstler spürt den „kraftvollen“ Geheimnissen dieser Welt und ihren Erschei-nungsformen nach und sucht zu ergründen, was die Welt, in der diese Kräfte wirken, unter ihrem Einfluß an Wandlungen erfährt. Seine atmenden Luftskulpturen im Jardin des Baisers (1983) aus leuchtend roter oder grellweißer Fallschirmseide strecken ihre in feine Spitzen auslaufenden Schläuche zitternd in den Raum; die Laserstrahlen schleudern ihre gebündelte, als grellgrüne Linie sichtbare Energie durch den Nachthimmel und suchen ihre Grenzen; Kaskaden von Wassertropfen fangen und brechen das Sonnenlicht.

Wasserstelle, Berlin,1988-89
Wasserstelle, Berlin,1988-89 Foto: Rolf Lieberknecht

Für den Brunnen am Fasanenplatz in Wilmersdorf hat er eine schmale Säule aus Edelstahl entwickelt, in deren schlanken Körper gläserne runde Scheiben eingelassen sind, die in einem flachen Winkelgrad aus der Horizontalen geneigt sind, so daß das Wasser in zähen Tropfen an der einen Seite abläuft und aufregen-de Lichtspiele ermöglicht. Manchmal ergreift der Wind die Tropfenkette und lenkt sie sprühend in einem – je nach Wind-stärke – mehr oder weniger flachen Bogen ab. Abhängig von Sonnenstand und Geduld des Betrachters erscheint ein vibrieren-der Regenbogen.
Die Wirkkräfte der Natur erleben und erforschen, ihre Mög-lichkeiten in der künstlerischen Praxis auszuloten, ihre Ergebnisse zu vermitteln bei der Raumgestaltung und (Um-)Welterfahrung – dies ist das künstlerische Programm des 1947 in Mettmann, einer kleinen Stadt bei Düsseldorf, geborenen und seit 1989 in Essen lehrenden Architekten und Künstlers. In seinen Arbeiten verbinden sich geometrische Strukturen, physikalische Kräfte und technische Elemente zu visuellen Erlebnisräumen von hoher emotionaler Intensität.

Mit Otto Piene bei "Die Zukunft der Metropolen", Berlin, 1984
Mit Otto Piene bei „Die Zukunft der Metropolen“, Berlin, 1984 Foto: Technische Universität Berlin

Der von Kriegserlebnissen geprägte katholische Mystizist Joseph Beuys als institutionalisierter Tabu-Brecher mit seinen aufsehenerregenden Performances an der Düsseldorfer Kunstakademie und die die westdeutsche Avantgarde der sechziger Jahre dominierenden jungen Künstler der Zero-Gruppe (Heinz Mack, Otto Piene, Günter Uecker u.a.) mit ihren Happenings und Ein-Tages-Ausstellungen beschäftigten sich schon in den fünfziger Jahren mit den Problemen des Lichts und Themen der Umweltgestaltung und praktizierten eine Zuschauerbeteiligung an der künstlerischen Aktion. „Eine unserer wichtigsten Absichten war die Reharmonisierung des Verhältnisses von Mensch und Natur – wir sehen in der Natur Möglichkeiten und Impulse, die Wirkung der Elemente und ihre stoffliche Gestalt: Himmel, Meer, Arktis, Wüste, Luft, Licht,Wasser, Feuer als Gestaltungsmedien; der Künstler istnicht der Flüchtling aus der modernen Welt, nein, er verwendet neue technisch Mittel ebenso wie die Kräfte der Natur.“ (Otto Piene, in: Zero 3, edition exposition demonstration, Galerie Schmela, Düsseldorf 1961)

Beuys und Zero bildeten zusammen mit den Künstlern der Gruppe „Junger Westen“und der Fluxus-Szene um Nam June Paik das Spektrum des geistig-künstlerischen Umfeldes, in das Lieberknecht hineinwuchs und das er als Rüstzeug und Gepäck mitnimmt, als er 1967 als zwanzigjähriger Student nach West-Berlin geht. Die westdeutsche Avantgarde begann zu jener Zeit mit wachsender Intensität die amerikanischen Kunstströmungen zu rezipieren und entwickelte unter dem Einfluß von Pop Art und Konzeptkunst eigenständige westdeutsche Strömungen.

Contact Suspended, London, 1979
Contact Suspended, London, 1979 Foto: Rolf Lieberknecht

Die Beziehungen von Kunst, Technologie und Wissenschaft nach der ersten Mondlandung und der fortschreitenden Eroberung des Weltraumes, ihr Verhältnis zum gesellschaftlichen Umfeld, ihre Verantwortung im politischen Kontext und ihre Verantwortbarkeit unter dem Primat des technischen Fortschritts waren die großen Themen der späten sechziger Jahre, als Lieberknecht seinen Weg in West-Berlin begann, in einem künstlerischen Umfeld, in dem die expressive ebenso wie die realistische Tradition gepflegt wurde und das von den Kämpfen der rheinischen Avantgarde noch relativ unberührt war.

Erst in der rasanten Entwicklung des westdeutschen Kunstmarktes als Folge der Messe-Gründung in Köln (1967) begann sich das Berliner Kunstleben in den späten siebziger Jahren den Einflüssen der westdeutschen Kunstszene zu öffnen. Zuvor hatten das Berliner Künstlerprogramm des DAAD und Galerien wie die von René Block oder Anselm Dreher intensiv daran gearbeitet, der internationalen „West-Kunst“ auch in Berlin den Boden zu bereiten. Der technoid anmutenden und moderne Technik verwendenden kinetischen Kunst ist im Zuge der politischen Diskussionen der siebziger Jahre oft vorgeworfen worden, sie fröne einem ästhetischen Formalismus, folge einer fragwürdigen Technikgläubigkeit und ihr fehle eine zeit- und technikkritische und politische Haltung. An Lieberknechts Arbeiten kann jedoch gezeigt werden, daß solche Einwände nicht stichhaltig sind. Seine sich an Standort und Umfeld orientierenden skulpturalen Objekte oder environmentalen Inszenierungen beweisen sehr wohl ein subtiles kritisches Potential und eine inhaltliche Tiefe; darüber hinaus reflektieren sie die Bedingungen der Kunstproduktion im Zeitalter der fortgeschrittenen Technisierung unseres Alltagslebens.
Für den Kongreß des Royal Institute of British Architects (RIBA) 1979 über die Grenzen des Design realisierte Lieberknecht im Treppenhaus des RIBA zusammen mit anderen Stipendiaten des Royal College of Art eine große Arbeit mit dem Titel Contract Suspended: an der etwa fünfzehn Meter hohen Decke des Treppenhauses wurden kleine Flugzeugmodelle befestigt, die Elemente abwarfen, die eine sich nach unten vergrößernde Spirale bildeten. Die fallenden Elemente entwickeln sich von diffusen Formen zu immer größer werdenden Gegenständen bis hin zu
Fernsehmonitoren und lebensgroßen Puppen, die Plastiktragetaschen in den Händen halten: ein aggressives Environment voller historischer und zivilisationskritischer Bezüge.
Der am Boden „klebende“ L’ Albatros aus gefalteten Bleiplatten, der am Otto-Lilienthal-Flughafen in Berlin-Tegel seine zum Flug bereiten Schwingen der Schwerkraft unterwerfen muß, steht als Zeichen einer zu überwindenden Materialität am Ort der globalen Luftverbindungen. Seine poetische Kraft entfaltet er als temporäre Lichtprojektion auf die weiße Wand des Fraunhofer-Institutes, wenn erdort seine computergesteuerten Flugbahnen zieht. Die Laserprojektion Ost-West vom 3. Oktober 1993 spannt eine reziproke Luftlinie zwischen der Humboldt-Universität in Berlin-Mitte und der Technischen Universität an der Straße des 17. Juni und verbindet zwei in Zeiten der wachsenden Konkurrenz nach Gemeinsamkeit suchende Wissenschaftlergruppen.

 

Windkinetische Großplastik, Berlin, 1995-97

Kooperation, Zusammenarbeit und Austausch mit Experten anderer Fachrichtungen sind wesentliche Elemente für die Entstehung solcher komplexen Arbeiten, wie Lieberknecht sie entwickelt. Seine Studienaufenthalte in der von George Rickey gegründeten Hand Hollow Foundation in East Chatham, an der Djerassi Foundation in Kalifornien und ein Gastaufenthalt an dem von Otto Piene geführten Center for Advanced Visual Studies (CAVS) des Massachussetts Institute of Technology (M.I.T.) haben sicher zur vertiefenden Formulierung seiner Gestaltungsideen und Entwicklung seines kommunikativen Arbeitsstiles beigetragen. Nur im Austausch und Zusammenführen der kreativen Potentiale können in unserer komplexen Wirklichkeit Innovationen entwickelt und vermittelt werden.
Ein schönes Beispiel für das Entstehen einer technisch-künstlerischen Erneuerung können wir beim Windspiel im nordöstlichen Randbezirk Hellersdorf von Berlin anführen. Wer sich dem südlichen Stadteingang der Kreuzung Hellersdorfer und Gülzower Straße nähert, hat von Westen her anfahrend einen langen Blick über das sich am rechtsseitig liegenden Grünstreifen entlangziehende graue Strassenband. Linksseitig wurde vor der zurückspringenden Bebauung vor drei Jahren ein Grünstreifen mit Parkplätzen angelegt, so daß der Blick des Herankommenden durch eine Art „grünen Tunnel“ auf die Stadtkante gelenkt wird.
Für diesen Standort wurde in einem konkurrierenden Verfahren eine kinetische Edelstahlskulptur von Rolf Lieberknecht ausgewählt, weil sie dem dort vorherr-schenden fließenden Verkehr eine sehr langsame und ständige Bewegung entgegensetzt und an dieser Straßenkreuzung an der südlichen Stadtkante auch günstige Windverhältnisse für den gewünschten Bewegungsfluß sorgen.
Auf einem vier Meter hohen Sockel, der die Skulptur aus der Unruhe auf der Straßenebene heraushebt, ragt ein feststehender, leicht aus der Senkrechten gekippter Edelstahlkörper von ca. 30cm Breite und etwa 6cm Dicke empor, an dem über eine querliegende Achse ein zweiter schwingender Schenkel befestigt ist, der durch seine raffinierte innere Kugellagertechnik auf jeden, auch zarten Lufthauch anspricht und eine im Widerstreit von Luftzug und Luftwiderstand liegende spannungsvolle Bewegung ausführt.
Ein flach geschwungenes Kreisbogensegment aus gerundetem Stahlrohr sorgt für den internen Kräfteausgleich und bildet eine überzeugende formale Ergänzung, indem die rechteckigen Flächen der Plastik durch das gebogene Rohr mit einem runden Querschnitt eine anders geformte Reflexoberfläche anbieten, die Licht und Bewegung auf eine zusätzliche Weise erfahrbar werden lassen. Die Wahrnehmung der Bewegungschoreografie wird von den Licht- und Wetterverhältnissen stark beeinflußt, manchmal blitzen die Schenkel in der Nachmittagssonne auf, wenn das Licht schräg von Westen darauffällt, an trüben Wintertagen mit diffusem Licht,wenn das „Hintergrundgrün“ der Bäume fehlt, kann das helle Grau des Edelstahls fast vollständig mit der Himmelsfarbe verschmelzen und die Skulptur fast unsichtbar werden lassen.
Lieberknecht studiert für seine großen Arbeiten im Stadtraum die Bewegungsfiguren in seinem Atelier an verschieden großen Arbeitsmodellen, die dann den ausführenden Firmen zur Vorlage dienen. Wie sich an der Arbeit für das Windspiel zeigte, verursachte die Vergrößerung des Modells auf die gewünschte Höhe im Zusammenwirken mit dem Hellersdorfer Wind besondere technische Probleme durch das Auftreten fremder Kräfte, die auch den Ingenieuren und Naturwissenschaftlern bisher unbekannt geblieben waren und das Funktionieren der Bewegungsabläufe der Skulptur nachhaltig beeinträchtigten, so daß für ihre Vergrößerung völlig neue technische Lösungen gefunden werden mußten. So erhielt die Skulptur das angefügte Kreisbogensegment, das für die reibungslosen Bewegungsabläufe in den kleinen Modellen nicht nötig war, für die große Arbeit jedoch unabdingbar wurde.
Das Verhältnis von Modell und Realität berührt eine der wesentlichen Fragen der architekturbezogenen Kunst. Die Erfahrung zeigt immer wieder, daß die für die Dimensionen des Stadtraumes notwendige Vergrößerung des Maßstabes nicht nur gewisse technische Probleme verursacht und sorgfältig zu bedenkende Fragen der Materialwahl aufwirft, sondern auch zu einer mitunter problematischen Formatierung führen kann, da die Gefahr einer unangemessenen oder unerwünschten Monumentalisierung entsteht. Diese Problematik wurde erst jüngst wieder durch die aktuellen Denkmalsdebatten aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Die Gefahr einer unerwünschten Monumentalisierung besteht bei dem Hellersdorfer Windspiel überhaupt nicht. Trotz ihrer Höhe von achtzehn Metern (ohneSockel) wirkt die Skulptur eher zierlich. Sie beweist eine filigrane Eleganz und beschwingte Geschmeidigkeit der Bewegungsabläufe und verbirgt die enormen Gewichte und Kräfte, die in ihr wirksam sind.

 

Wasserskulptur, Berlin, 1995

Wer dagegen im Tiergarten das Blaue Haus, ein 1996 fertiggestelltes Bürohaus an der Ecke Perleberger/Lehrter Straße, betritt, kann eine ebenso imposante wie gewichtige Wasserkunst betrachten, deren Kräfte und Gewichte sich unmittelbar darstellen. Ein riesiger, schmeichelnd gerundeter Block aus rötlich schimmerndem feingekörnten Granit scheint auf einer hochaufragenden, metallverkleideten schwarzen Wand zu balancieren. Aus seinem Inneren quillt ebenso leise wie unaufhörlich ein kontinuierlicher Wasserstrom, der die Wölbungen des Steines umhüllt und dann an der schwarzen Metallwand hinabläuft.

Hier kann an einem eindrucksvollen Beispiel die Frage des Maßstabs erneut diskutiert werden. Quellende Brunnensteine in handlichem Format können, mit einer kleinen Pumpe versehen und in Schalen zu mehr oder weniger kitschigen Arrangements gefügt, in Kaufhäusen oder Esoterik-Läden als Luftbefeuchter für den Hausgebrauch erworben werden. In Lieberknechts Format gewinnt die Brunnenanlage eine monumentale Qualität, die in ihrer Gestalt die bildhauerischenGrundfragen von Tragen und Lasten thematisiert und eine meditative Schönheit und Erhabenheit ausstrahlt.

Die Form des Steines wurde aus einem maßstäblich vergrößerten Fundstück gewonnen, das der Künstler auf einem Spaziergang am Meer aufgehoben und wegen seiner weichen, vom Meer geschliffenen und gerundeten Form mit in sein Atelier genommen hatte. Dort fristete der Stein ein jahrelanges, nahezu unbeachtetes, durch gelegentliches nachdenkliches Streicheln unterbrochenes Dasein, bis der Künstler auf der Suche nach einer überzeugenden Form für den Brunnen im Blauen Haus sich seiner erinnerte und er zum Vorbild für den Brunnenstein wurde. Nachdem seine Form – elektronisch abgetastet und mit Computerhilfe maßstäblich genau vergrößert – aus einem Felsblock herausgearbeitet worden war , wurde der Stein von einem Kran sanft auf den vorbereiteten, zwei Geschoß hohen schwarzen Sockel im Atrium des Blauen Hauses niedergesenkt.
Die Plazierung des Brunnensteins mußte im Rohbau vorgenommen werden, bevor das abschließende Glasdach montiert wurde, da keine andere für das Hineinbringen des Steines geeignete Öffnung im Haus vorhanden war und der Querschnitt des Steines in Relation zum Querschnitt des Atriumschachtes entwickelt worden ist. So orientiert sich die Brunnenanlage nicht nur an den Maßstäben des Hauses und fügt sich seinen Vorgaben, sondern sie ist somit wirklich untrennbar mit dem Haus verbunden, und das ununterbrochene, leise Verströmen des Wassers wirkt wie eine erfrischende Quelle der Vitalität, die die kreative Atmosphäre des Hauses mitprägt und belebt.
Raum greifen, Raum gestalten und Raum prägen sind die grundlegenden Prinzipien des Lieberknechtschen Kunstschaffens und das wesentliche Anliegen seiner Gestaltungskonzepte. Sie sind zurückhaltend und maßvoll in ihrer Erscheinungsform, aber von überzeugender Stringenz, bei durchkalkuliertem Einsatz der Mittel. Material und Aufwand werden überlegt und angemessen, in einem geradezu ökonomischen Verhältnis geplant und realisiert. Die Gestaltungsideen und ihre Umsetzungsstrategien werden gleichermaßen von Intuition und Erfahrung gesteuert. Lieberknechts Kunst ist vollkommen unprätentiös, und was an ihr fasziniert, sind die Räume der Sinnlichkeit, die sich über dem Werk öffnen. Dafür bedarf es allerdings eines Betrachters mit wachem Geist und offenem Herzen.

Gerhard Finckh: Betrachtungen über eine Platzgestaltung

„Platz!“ lautet die Aufforderung an einen Hund, wenn sich das Tier für einen etwas längeren Zeitraum niederlegen darf. Der Begriff „Platz“– wir kennen auch den Begriff „Platznehmen“– hat also etwas zu tun mit Ruhe, mit Ausruhen, auch mit Zerstreuung und Erfrischung. Andererseits rufen in eiliger Bewegung begriffene Menschen gelegentlich: „Platz da“, um sich Raum zu verschaffen, um Freiheit für ihr Vorwärtsdrängen zu gewinnen. Dem Begriff „,Platz“ wohnen, so gesehen, zwei gegensätzliche Assoziationsmomente inne: Ruhe und Bewegung. Im Platz, d.h. einem städtebaulichen Gefüge, spiegelt sich diese widersprüchliche Auffassung. Ruhige – oder vielleicht besser: verkehrsberuhigte – Orte werden ebenso als Plätze bezeichnet, wie vom Verkehr durchbrauste Straßenknotenpunkte.
Rolf Lieberknecht, Professor an der Universität GH Essen, hat eben dort einen Platz gestaltet, den er selbst als Forumbezeichnet. Und so ist anläßlich der Inbetriebnahme dieses Ortes zu fragen: Was ist eigentlich ein Platz? Was soll er, was kann er leisten? Welche Vorstellung von einem Platz hat Rolf Lieberknecht hier realisiert? Und: wie, mit welchen Mitteln, erreicht der Künstler-Architekt seine vorgegebenen Ziele?
Was ist ein Platz?
Ein Platz, so lehrt das Lexikon der Weltarchitektur, ist „ein Gestaltungselement der Stadtbaukunst durch Freihaltung von Bebauung.“ So plausibel das im ersten Moment klingt, ist dem doch energisch zu widersprechen; denn kaum jemand hätte wohl von diesem Ort vor dem Haupteingang der Universität als von einem „Platz“ gesprochen, bevor Rolf Lieberknecht diesem Ort etwas hinzufügte. Plätze entstehen nicht einfach durch Freihaltung von Bebauung, also durch Weglassen, Plätze entstehen vielmehr durch das Hinzufügen von etwas, das einem Freiraum eine Form gibt; man kann vielleicht sagen: ein Platz ist gestalteter, in Form gebrachter Raum. Die These, daß erst durch das Hinzufügen von formenden Elementen aus dem ungeordneten Raum ein Platz entstehe, läßt sich durch einen kurzen Blick auf zwei oder drei der bedeutendsten Plätze der Weltarchitektur erhärten. Welche Elemente bei einer Platzgestaltung ihren Einsatz finden und in welchem Verhältnis zueinander, ist dabei eine entscheidende Frage.
Agoraist die alte griechische Bezeichnung für einen Platz. Schon Homer kennt die Agoraals einen öffentlichen Platz für Beratung, Gericht, Wettspiele, Tanz und Opfer. Dieser Platz kann vor einem Palast, vor einem Heiligtum oder irgendwo in der Stadt liegen, häufig ist er von Säulenhallen umgeben und mit Treppenanlagen verbunden.
Der griechischen Agoraentsprach im römischen Weltreich das Forum. Meist war es als gestrecktes Rechteck angelegt und von öffentlichen Gebäuden umstanden. Häufig wurden diese Gebäude auch durch Kolonnaden zusammengefaßt. Während die kleineren Provinzstädte jeweils nur ein Forumbesaßen, hatten große Städte wie Rom mehrere Fora. Unter diesen bildete das Forum Romanumden politischen und religiösen Mittelpunkt Roms und des ganzen Imperiums.
In der Renaissance wird der Platz erneut zum Thema der Gestaltung und erweckt das Interesse von Architekten und Künstlern. Kein geringerer als Michelangelo, der Maler, Bildhauer und Architekt, begann 1536 mit der Gestaltung der Area Capitolina, dem Platz auf dem Kapitolshügel in Rom, den man als die „Mutter aller neuzeitlichen Plätze“ bezeichnen kann. Seine Platzgestaltung ist wegweisend, auch und besonders im Hinblick auf die verwendeten Gestaltungselemente.
Als Michelangelo mit der Gestaltung des Platzes begann, fand er auf dem Hügel, hoch über dem alten Forum Romanum, zwei Gebäude vor, die in einem 80° zueinander standen. Er ließ diese zwei Gebäude um ein drittes ergänzen, so daß ein leicht trapezförmiger Platz entstand, der sich an seiner schmalen Seite zur neuen Stadt hin öffnet und mit dieser durch eine breite Rampentreppe verbunden ist. Um dem Platz eine Mitte zu geben, ließ Michelangelo das Reiterstandbild des Marc Aurel (das damals noch als das Kaiser Konstantins galt) vom Lateran auf das Kapitol überführen und auf einen einfachen Sockel stellen. Sodann gab Michelangelo dem bis dahin ungestalteten Boden des Platzes eine neue Form. Er zeichnete mit Hilfe heller Travertinplatten ein leicht versenktes Oval in das Trapez und gliederte dieses Oval, das zur zentralen Statue des Reiterdenkmals leicht ansteigt, als zwölfzackigen Stern.
Vervollständigt wird das Bild des Platzes einerseits durch Skulpturen, andererseits durch die Fassaden der umstehenden Gebäude, die sich mit großen, regelmäßig ausgebildeten, aufwendig mit Säulen gestalteten Fenstern zum Platz hin öffnen und den Grenzbereich von Innen und Außen, von Fläche und Raum thematisieren. Mit diesen Kunstgriffen gelang es Michelangelo in der Area Capitolina, aus einem ungeordneten Ort den Platzraum par exellence zu schaffen. Und so ist es kaum erstaunlich, daß selbst der Bildhauer und Architekt Lorenzo Bernini, der an sich nicht gerne freundlich von anderen Künstlern sprach, von Michelangelo sagte: ,,Michelangelo war groß als Bildhauer und Maler, aber er ist göttlich als Architekt.“
Das Gestalten eines Ortes, das Erschaffen eines Platzes ist eine ästhetische Handlung, und diese Handlung bedeutet einen Eingriff in den konzeptionsarmen, häufig von Notwendigkeiten und Sachzwängen diktierten baulichen Wildwuchs eines Stadtgefüges. Andererseits verbindet sich mit der Gestaltung von Plätzen auch der Wunsch, bestimmten politischen oder philosophischen Vorstellungen Ausdruck zu geben. So gibt es zwar von Michelangelo keine eindeutigen schriftlichen Äußerungen zu seinem Kapitolsplatz in Rom, dennoch ist diese Platzgestaltung als Versuch Michelangelos gedeutet worden, demokratisch-republikanische Vorstellungen zu gestalten, deren Untergang Michelangelo in der Tyrannei der Medici (Cosimo I.) Jahre zuvor in Florenz miterlebt hatte. In Florenz hatte sich Michelangelo für ein demokratisch verfolgtes Gemeinwesen eingesetzt, und er versuchte nun, im römischen Exil, seiner Utopie baulichen Ausdruck zu geben.
Die geniale Platzlösung der Area Capitolinain Rom durch Michelangelo vereinigt nahezu alle wesentlichen Merkmale des Themas Platzgestaltung so in sich, daß nur noch zwei Elemente besonderer Erwähnung bedürfen, die sich in Lorenzo Berninis nicht minder großartiger Gestaltung des St.-Peters-Platzes in Rom finden. Dies sind zum einen die Säulen, die in dichten Reihen den Platz umfangen, ihn umschließen, ja sogar den Platz eigentlich konstituieren und die als solche Einfassung der Fassade der St.-Peters-Kirche zu einer monumentalen Erscheinung verhelfen. Zum anderen ist darauf zu verweisen, daß Bernini den St.-Peters-Platzals einen Verweilraum konzipierte, als einen Ort der Versammlung, dessen Eigenart sich weniger im Durchschreiten erschließt, sondern sich der Versammlung der Vielen eröffnet, beispielsweise der statischen Menge der Gläubigen. Die politisch-philosophische Konzeption dieses Platzes umriß Bernini mit den Worten, der St.-Peters-Platzsolle „die Menge mütterlich aufnehmen: die Katholiken, um sie im Glauben zu stärken, die Ketzer, um sie zur Kirche zurückzuführen, und die Ungläubigen, um ihnen den wahren Glauben zu enthüllen.“ Soviel zu historischen Platzgestaltungen.

 

1 Kapitolsplatz, Rom, Gestaltung von Michelangelo Buonarroti  2 Kapitolsplatz, Rom, Stcih von Etienne Dupérac, 1569  3 Petersplatz, Rom, Gestaltung von Lorenzo Bernini, anonymer Stich

Als Rolf Lieberknecht sich daran machte, den Ort vor dem Haupteingang der Essener Universität zu einem Platz, einem Forum, zu gestalten, fand er eine städtebaulich wenig attraktive Situation vor: Von der Essener Innenstadt her kommend, sieht der Besucher der Essener Universität zunächst – über den Bahndamm hinweg – nur die oberen Stockwerke der Universitätsgebäude, die auf den ersten Blick nicht auf ein eigentliches Zentralgebäude und nicht auf einen zentralen Haupteingang verweisen. Durch die Unterführung der Bahn nähert sich der Besucher dem großen Gebäudekomplex von der Gladbecker Straße, beziehungsweise, über die Querverbindung der Universitätsstraße von der Segerothstraße her kommend, einem Gebäude, das sich bislang weniger zu öffnen als vielmehr vor dem Besucher zu verschließen schien. Der Eingang war nicht leicht zu finden. Vielmehr suchte der Besucher zwischen parkenden Autos, Fahrrädern, vereinzelten Bäumen und Büschen über weitläufige Treppenanlagen den nächstmöglichen Zugang zum Gebäude in der Hoffnung, in dessen Innerem auf einen freundlich wegweisenden Portier oder wenigstens auf Info-Tafeln zu stoßen. Was der Besucher der Essener Universität vorfand, war also bislang ein eher ungegliederter Vorraum, als daß diese Raumsituation einem Platz geähnelt hätte.

Die Frage, die sich Rolf Lieberknecht stellte, lautete daher: Wie ist es möglich, aus einem ungegliederten Raum einen Platz zu schaffen? In Siegfried Giedions Standardwerk Der Beginn der Architekturvon 1964 heißt es dazu: „Es ist möglich, Raum abzugrenzen. Seinem Wesen nach ist er jedoch grenzenlos und ungreifbar. Er erlischt im Dunkel, und er kann sich im Unendlichen verflüchtigen. Er hat keine Form. Es braucht Media, um Raum sichtbar zu machen. Er muß abgegrenzt und geformt werden, sei es durch die Natur oder durch den Menschen. Alles Weitere ist Beziehungssetzung. Raum ist ungreifbar, und trotzdem gibt es ein Erlebnis des Raumes. Wie entsteht das Raumerlebnis? Damit aus einer, von bestimmten Dimensionen abgegrenzten Leere ein Gebilde wird, das unmittelbare Empfindungen auslöst, sind komplexe Vorgänge nötig.“
Ausgehend von der Idee, aus dem mehr oder weniger ungeordneten Raum vor der Universität einen Platz auszugrenzen, der zugleich auch den Eingang zur Universität markieren sollte, bemühte sich Rolf Lieberknecht zunächst darum, die vorhandene Öffnung, den zentralen Eingang zur Universität zu akzentuieren. Er tat dies, indem er vor die beiden winkelig aneinanderstoßenden Fassaden am Ende des Gebäudes jeweils eine Reihe roter Säulen stellte. Diese Säulen verstärken die Winkelform der Gebäude, die jetzt eher wie ausgebreitete Arme den Besucher in Empfang nehmen. Um dem so entstehenden Platz, dessen Dimensionen durch die beiden Säulenreihen, bzw. durch die Gebäude, auf die sie bezogen sind, definiert werden, einen Abschluß nach außen hin, zum weniger Geordneten zu geben, vervollständigte Rolf Lieberknecht diese Säulenreihen um zwei weitere, gegenläufige Säulenreihen zu einem großen Geviert. Vervollkommnet wird die Ausgrenzung des ungeordneten Raumes durch einen umlaufenden Stab, der von kleinen Halterungen über den Säulen getragen wird.
Die Säulen definieren in Verbindung mit dem umlaufenden Stab einen Innenraum, der sich von außen in der Schrägansicht auf die Säulen als relativ geschlossen präsentiert (man kann fast von einer roten Wand sprechen), während er sich in der Frontalansicht als luftig offener, einer Pergola ähnlichen Terrassenraum darstellt. An zwei Stellen, die miteinander korrespondieren, treten die Säulen weiter auseinander als sonst: nahe der Gebäudekante des sogenannten Glaspavillons und noch einmal unmittelbar vor dem Haupteingang des Gebäudes öfnet sich die Säulenreihe, jedoch ohne zusäzliche Akzentuierung, zu einem breiteren, einladenden, portalartigen Durchgang. Dezent und doch durchaus wahrnehmbar schafft Lieberknecht so eine neue Situation für den Haupteingang der Universität. Der kleinen, wenig repräsentativen Tür des Haupteingangs ist jetzt ein Platz vorgelagert, der aus der Ferne aufgrund seiner hervorgehobenen Farbigkeit und aufgrund seiner einfachen kubischen Gestalt leicht zu finden und dann rasch zu durchschreiten ist, der aber auch durch die regelmäßige Setzung der Säulen selbst im schnellen Passieren ein Gefühl von Ordnung und Orientierung vermittelt.
Aber dieser Platz erfüllt nicht nur die Funktion eines erweiterten, rasch zu durcheilenden Entrees. Er eröffnet seinen Besuchern auch noch weitere Perspektiven; denn Rolf Lieberknecht hat nicht nur die Außenkanten des Platzes neu definiert, er hat auch seinen Innenraum gestaltet. War der Gebäudevorplatz vormals unregelmäßig von Bäumen bestanden, griff der Künstler und Architekt auch hier ordnend ein, indem er die Bäume innerhalb des Platzquadrates zu einer regelmäßigen, dem Quadrat folgenden Figuration von 3×3 Platanen ergänzte. Zugleich veränderte er den Bodenbelag im Platzinneren: Er entfernte unter den Bäumen die Waschbetonplatten in einem Quadrat von ca. 20×20 Metern und ließ dort einen neuen wassergebundenen Boden aufschütten. Dies führt nicht nur zu einer Zentrierung des Platzes, der dadurch in seiner Regelmäßigkeit betont wird, sondern gibt dem künstlichen öffentlichen Platz auch eine gewisse offene Intimität, Serenität und Natürlichkeit, die an die sandigen Parks und Petanc- und Boulleplätze Frankreichs erinnern. Laden die Platzportale den Besucher zum raschen Durchschreiten ein, ist hier unter den Bäumen der Platz zum Verweilen, zum Treffen und zur Kommunikation geschaffen.

1 / 2 Forum   3 Forum, Einweihung am 25. Juni 1997

Der neue Platz erfüllt somit zwei Funktionen: Er gibt eine neue Orientierung auf das Gebäude hin, und er wirkt als selbständiges architektonisches Element, das der Kommunikation dienlich sein kann. Die gegensätzlichen Elemente von Ruhe und Bewegung, die Spannung zwischen „Platz!“ und „Platz da!“ finden hier zu einer harmonischen Synthese.
Die Mittel, derer sich Rolf Lieberknecht bei der gestellten Aufgabe bediente, sind ebenso einfach wie klassisch: Es sind in erster Linie die Säulen, die hier nicht aus massivem Stein, sondern aus Stahlrohren bestehen, einem Material, das nicht nur der Ruhrregion angemessen ist, sondern in seiner Robustheit auch der natürlichen Sozialpatina einer Universität standhält. Diese Säulen akzentuieren die dahinter liegende Fassade einerseits, konterkarieren deren Struktur aber auch, indem sie über das erste Geschoß hinausragen und sich damit dem Rhythmus der Fassade gerade nicht unterordnen. Ihr Rot ist zwar auf die Rotelemente der Fassade bezogen, aber andererseits doch ein eigenständiges, nämlich das des Rostschutzes, und zugleich verweist dieses Rot ganz unaufdringlich auch auf historische Vorbilder, etwa die farbigen Säulen von Kreta, Pompeji oder in Fernost. Neben den Säulen ist es das Element des blanken Metallrohres, das als „Linie“ über den Säulen in Erscheinung tritt und den Platz in sich zusammenschließt und zugleich keineswegs schwer wie ein Architrav wirkt.  Diese Linie erhebt in ihrer Leichtigkeit keinen Herrschaftsanspruch, sondern löst den Platz vielmehr als ein leichtes, luftiges Gebilde aus dem umgebenden Raum. Daß diese Linie bei Dämmerung mittels eines leichten Lichtbandes den Platz aus dem Dunkel des Raumes ausspart, sei hier nur am Rande erwähnt. Weitere, den Platz konstituierende Elemente sind der ausgehobene Boden und die neugepflanzten Bäume, die dem Platz eine neue, beruhigte Mittelzone geben. Und schließlich kommen noch zwei Elemente hinzu, die bisher keine Erwähnung fanden. Das eine sind die neuen Bänke, die unter den Bäumen verteilt sind, und die mit ihren unterschiedlichen Formen dazu anregen, über das Thema Gestaltung an sich nachzudenken, und gleichzeitig zum Verweilen einladen. Sie wurden in einer gemeinsamen Entwurfsinitiative mit Lieberknechts Professorenkollegen aus dem Industrial Designentworfen. Das andere sind die Treppenanlagen, die bislang so weitläufig und ungeführt erschienen, und die jetzt deutlicher die Funktion einer Zuwegung und Achsenbildungerfüllen.
Rolf Lieberknecht hat bewußt Elemente aus den klassischen Platzgestaltungen aufgegriffen, diese aber nicht in einer traditionellen oder gar nachahmenden Weise eingesetzt, sondern sie in verwandelter Form und Funktion für eine komplexe Situation, die sich aus dem modernen Bauen der siebziger Jahre ergab, genutzt. Er hat damit aus eher kargen, sparsamen Mitteln, die sich letztlich aber doch aus der europäischen Geschichte der Platzgestaltung herleiten, für die Universität Essen eine Situation geschaffen, in der sich das rasterhafte Gebäude und der bislang ungeordnete Vorraum in ästhetisierter Funktionalität begegnen.
In seiner Leipziger Antrittsrede sagte der Kunsthistoriker und Wegbereiter der Formanalyse, August Schmarsow, 1893 über den Zusammenhang zwischen Architektur und Kunst: ,,Die gemeinsame Grundlage und das unveräußerliche Merkmal in der Definition der Architektur als Kunst muß also die Raumbildung bleiben. Raumgestalterin ist sie von Anfang bis zu Ende; nur dieser Begriff erschöpft ihr Wesen.“
Mit dieser Platzgestaltung vor der Essener Universität hat Rolf Lieberknecht eine raumbildnerische Meisterleistung vollbracht und damit die Richtigkeit der Schmarsowschen These bewiesen: Architektonische Mittel, richtig eingesetzt und im Raum angewandt, ergeben: Kunst.