Thomas Zaunschirm: Das Finden der Balance

Balance 2003
Material: Eisen, Federstahl, Messing
H: 50 cm, B: 40,3 cm, T: 40,3 cm

Balance 2003
Foto: Udo Hesse

DAS FINDEN DER BALANCE

Zu einer Skulptur von Rolf Lieberknecht

1. Eröffnung   Die „Balance“ (2003) wird in einem eleganten weißen Etui aufbewahrt. Nachdem
man die etwa 47 x 8 x 2 cm große Schachtel geöffnet hat, sieht man, eingebettet in einen
schwarz geriffelten Karton, ein transparentes Rohr, das an seinem Ende in einen 2,5 cm hohen
rostfarbenen Halbzylinder geschoben ist. Hebt man den Zylinder heraus, bemerkt man,
dass beide Teile ineinander Halt finden, weil die Rundung des Zylinders etwas über seine Hälfte
hinausgeht. Nachdem man die Teile voneinander getrennt hat, entdeckt man in dem gläsernen
Rohr zwei gleichlange dünne Stäbe: der etwas breitere ist aus Messing, der andere aus
Stahl. Man öffnet den Glaskorken und entnimmt die beiden 40,3 cm langen Elemente. Die Verpackung
stimmt einen auf das folgende ästhetische Ritual ein. Worauf es ankommt, sind die
drei verschiedenfarbigen Metallteile. Es ist wichtig, dass man die Skulptur als Ergebnis
einer Handlung versteht, da sie das Überraschungsmoment besser erschließt.
Der Bogen des liegenden Zylinderschnitts ist ein Sockel mit einem punktgroßen Loch. In diese
mittlere Öffnung passt der dünne, an beiden Enden zugespitzte Stahl. Bevor der etwas breitere
Messingstab darauf gelegt wird, sollte die Vertikale zur Ruhe gekommen sein. Die gleichlange
Horizontale ist in der Mitte leicht eingekerbt. Sie wird auf die Spitze der Vertikalen gelegt. Ist
der Grund nicht schief, kommt das System zur Ruhe. Nach einer Zeit der nachlassenden Aufmerksamkeit
nimmt man gelegentlich nur noch die schwebende Horizontale wahr. Das Ganze
hält, auch wenn es wie Mobiles (oder Stabiles) durch Bewegung im Umfeld, den schwingenden
Boden oder einen Windstoß ins Schwanken gerät und sich sogar um die Achse dreht. Einfach
gesagt, handelt es sich um eine kinetische Skulptur, die ihr Ziel in der Ruhe erreicht.2. Punkt und Kreise   Auch wenn der horizontale Stab auf der Vertikalen ruht, handelt es
sich mathematisch um die Kreuzung von zwei Geraden in einem Punkt. Beide sich biegenden
Geraden haben eine Schwankungsbreite möglicher Bewegungen. Sie beschreiben in der Mitte
mit dem Kreuzungspunkt und an den Enden kreisende Formen im Raum. Durch die minimale
Einkerbung auf der Unterseite des Messingstabes werden überraschend heftige Schwankungen
möglich, bevor das System abstürzt. „Es gibt Dinge, die den meisten Menschen unglaublich erscheinen, die nicht Mathematik studiert haben.“ Der Ausspruch soll von Archimedes (287– 217 v. Chr.), dem bedeutendsten
Mathematiker der Antike stammen. Nicht jeder hat Mathematik studiert, sodass die „Balance“
unglaublich wirkt. Sie zeigt auch in metaphorischer Weise, wie selbstverständlich es ist, seine
Balance zu gewinnen, und wie unvermittelt der Absturz folgen kann.
Als Archimedes Kreise in den Sand zeichnete, wurde er der Legende nach von einem römischen
Soldaten erschlagen, weil er diesen ermahnte: „Störe meine Kreise nicht“. Als erkenntnistheoretische
Weisheit gilt der „archimedische Punkt“. Darunter verstand der antike Denker den „absoluten Punkt“ außerhalb eines Versuchsaufbaues, der als unveränderbarer Hebelpunkt diente. Mit ihm könne man „ganz
alleine die Erde anheben, wenn man nur diesen einen festen Punkt und einen ausreichend langen
Hebel hätte“. Der Haken daran war, dass diese Utopie nur in einem geschlossenen Kosmos
als sinnvoll verstanden wird. Ein „quasi archimedisches System“ liegt dann vor, wenn
sich der Hebelpunkt in ein System der (nicht zu störenden) Kreise schiebt. In einem offenen
Universum gibt es keine Punkte außerhalb von Versuchsaufbauten (wie der Erde).
Archimedes’ Berechnungen waren naturgemäß durch das statische Weltbild seiner Zeit beschränkt.
Das Verhältnis von Flächeninhalten krummlinig begrenzter Flächen überprüfte er
nicht mathematisch, sondern praktisch. Er zeichnete derartige Flächen auf dünne Tafeln
und schnitt diese aus. Dann beschnitt er gleichdünne quadratische Flächen solange, bis diese
das gleiche Gewicht wie die unregelmäßig begrenzten Flächen hatten. Die Fläche eines
Quadrates konnte er berechnen und somit auf den Flächeninhalt von krummlinig begrenzten
Flächen schließen. Auf diese Weise diente das Gewicht der Überprüfung mathematischer Größenverhältnisse.
Archimedes bewies auch, dass sich der Umfang eines Kreises zu seinem
Durchmesser genauso verhält, wie die Fläche des Kreises zum Quadrat des Radius. Wir nennen
das π (Pi).

3. Symbolische Momente   Befindet sich die „Balance“ in Bewegung, sind ihre dynamischen
Zeichnungen kaum zu verfolgen. Auch wenn die Gravitation der entscheidende Faktor ist,
fasziniert gerade die sich ihr entziehende Leichtigkeit der Schnitte in dem raumzeitlichen Feld
der Anlage. Nicht die Schwerkraft bewirkt die Eindrücke gekrümmter (d.h. bewegt-zeitlicher)
Räumlichkeiten, sondern die Linien heben und senken sich unter dem eigenen Gewicht der
Vertikalen und Horizontalen. Erfassbar wird die Schwerkraft nur im Punkt, auf dem das Messing
aufliegt. Die Kräfte kommen von auswärts. Der archimedische Punkt ist nicht absolut, sondern
konkret. Der Punkt und der Hebel bringen nicht die Welt aus dem Lot, sondern umgekehrt.
Die Welt bewegt die Anordnung, und das Nachlassen der Einflüsse endet in der Balance.
Erreicht das System der Orthogonalen sein Gleichgewicht, wird die Geschichte der Bedeutungen
evoziert. Als der euklidisch-flache Raum durch die relativistische Physik (und Geometrie)
verabschiedet wurde, entwickelten sich seine Koordinaten für die Kunst zu einem Ordnungssystem.
Dabei orientierte man sich nicht zuletzt an esoterischen Traditionen. Piet Mondrian
strebte nach dem Ausgleich der widerstreitenden Polaritäten: Natur – Geist, weiblich – männlich,
negativ – positiv, Statik – Dynamik, Horizontale – Vertikale. Selbst dort, wo es im Werk
die formale Entsprechung nicht gab, wo der rechte Winkel nicht den mitbestimmenden Ausgleich
schuf, bediente sich der neue Geist der rigiden Dichotomie. Wassily Kandinsky, dem
wir feine Beobachtungen über Punkt und Linie zu Fläche (1926) verdanken, stürzt auch in die
typisch männliche ikonografische Zuweisung ab: die Horizontale wird zum liegenden passiven
Weiblichen, die Vertikale zum beweglichen, aktiven Männlichen. Wie weit wir von dieser
Sicht, in der die Waagerechte die unbewegliche Basis darstellt, entfernt sind, zeigt der Blick auf
die schwebende Eleganz der „Balance“: die schwingende Horizontale trägt nicht, sondern
wird getragen, sie ist nicht unten, sondern oben. Wir genießen ihre Bewegung und erfreuen
uns am Stillstand, in denen wir keinen Gegensatz, sondern Ergänzungen sehen.
Die „Balance“ wird nicht durch den auftrumpfenden Gestus der pathetischen Avantgarde
bestimmt, sondern von der symbolentlasteten Leichtigkeit spielerischer Weltsicht. Sie ist nicht
das Abbild ewiger Wahrheiten, sondern zeigt die heitere Umkehr der Kräfte. Die „Balance“
demonstriert nicht das starre Ende, sondern erfreut und erheitert durch ihre ständige Bereitschaft,
neue Impulse aufzunehmen.

Thomas Zaunschirm

FINDING YOUR BALANCE

About a sculpture by Rolf Lieberknecht

1. Opening   The “Balance” comes in an elegant white case with the measurements 47x8x2 cm.
As you open it, you see a transparent tube, embedded in a black cardboard. The tube rests in
a rust-coloured half-cylinder that encloses it far enough, so it can’t fall out. You can slide it out
sideways. The tube contains two thin rods, one made of steel, the other, slightly thicker, made
of brass. You open the glass cork on the tube and take them out. The packaging is an overture
to the ensuing aesthetic ritual. The essence of the sculpture lies in the three differently
coloured metal parts. It is important to see the sculpture as the result of a process. In this way,
the element of surprise is revealed more profoundly. The rounded part of the half-cylinder serves as
a pedestal. In the middle there is a minute hole for one of the tips of the thin steel rod. This vertical
part of the sculpture, or of the “Balance”, must be allowed to become completely still and
balanced before you put the wider brass rod horizontally on top. The brass rod is slightly
grooved in the middle and will come to rest on the upward tip of the steel rod. On an even
surface, the system will come to rest and stay in equilibrium. After some time of fading concentration,
all you will register is the floating horizontal. The sculpture remains basically stable
like a mobile (or stabile), although it may sway or even turn around its vertical axis with a
gust of wind or other movement around it. Put simply, the “Balance” is a kinetic sculpture
whose aim it is to remain still.

2. Point and circles   Even if the horizontal rod rests on the vertical one like in the letter
“T”, in mathematical terms we are dealing with the crossing of two straight lines in one point.
Both of these (bending) straight lines have a limited range of possible movements available
to them. They describe elliptical shapes around the anchored cross-point in the middle. The
small groove in the underside of the brass rod allows for surprisingly violent movement without
crashing the system. “There are things that seem unbelievable to
people who did not study mathematics”. This quote is attributed to Archimedes (287– 217 BC),
the most prominent mathematician of ancient times. To most of us who don’t have a degree in
mathematics, the “Balance” seems incredible. It shows in a metaphorical way how natural it is
to gain or regain your balance – and how sudden and unexpected the ensuing crash can be.
Legend has it that Archimedes was drawing circles in the sand and was killed by a Roman
soldier, because he told him: “Do not disturb my circles”. The “Archimedean point” is an essential
part of epistemological wisdom: The ancient thinker saw this point as an absolute point
outside of the experiment which served as a invariable reference point. It would be possible,
he said, to lift the earth by this one fixed point alone if one had a long enough lever. The problem
is that this utopia can only work in a closed universe. If the leverage or reference point is
moved inside a system of circles (which should not be disturbed), we have a “quasi Archimedean
system”. In an open universe there cannot be points outside
the experiment (like the earth, for example). Archimedes’ math was naturally limited by
the static world view of his time. He did not arrive at the area of a surface by mathematical
means, but by practical means. He drew the surfaces on thin tablets and cut them out. Then
he compared the weight of the tablets. So the weight served as a parameter for area. Archimedes
also proved that the circumference of a circle in relation to its diameter is the same as
the area of a circle in relation to the square of its radius. This is called π (Pi).

3. Symbolic Moments
   When the “Balance” is in motion, its dynamic drawings can hardly be
followed. Although gravity is the defining factor, the moves cut through the space-time scope
defying gravity. It is not gravity which creates the impression of curved space, but the lines
themselves rise and fall with the weight of the vertical and the horizontal. Gravity is only tangible
in the one spot where the brass rod touches the steel. The forces come from outside.
The “Archimedean point” ist not absolute, but real. The point and the lever do not throw
the world off balance, but it is the other way round: the world around it moves the system,
and the diminishing influence of outside forces will end in balance, in equilibrium.
As soon as the equilibrium is reached, the history of meaning is evoked. When the Euclidean
flat space was replaced by relativistic physics and geometry, its coordinates became a classification
system for the arts. Esoteric traditions were also a way of orientation. Piet Mondrian
strove for the reconcilliation of opposing forces: nature – spirit, female – male, negative – positive,
static – dynamic, horizontal – vertical. Even when there was no formal equivalent in the
works themselves, when right angles were not used to convey this reconcilliation, the new
mind still used this rigid dichotomy. Even Wassily Kandinsky, who gave us some delicate
observations about the relation of point and line to shape (1926), falls into the typically male
iconographic assignation: The horizontal is the passive, supporting female part, the vertical is
the active male part. One look at the floating elegance of the “Balance”
shows how far we have moved away from this view that the horizontal has to be the immobile
base. The mobile horizontal is not the supporting part, it is being supported. It is not
underneath, but on top. We are enjoying its movements and also, when it comes to rest,
the stillness. Movement and standstill are not opposites, but complement each other.
The “Balance” is not defined by the boastful posturing of a pathetic avantgarde but by the
lightness of a playful worldview, free from symbols. It is not an image of eternal truths but
shows a cheerful reversal of powers. The “Balance” does not demonstrate a fixed
conclusion, but delights us with its neverending readiness to react to a new impulse.

Thomas Zaunschirm

geb. 1943, Promotion und Habilitation in Salzburg Gastprofessuren an den Universitäten Zürich und Graz
1989-1994 Professor für Kunstgeschichte an der Universität Freiburg i.Br.
1995-2007 Professor für Neuere Kunstgeschichte/Kunstwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.
Zahlreiche Bücher zur Kunst der Moderne („Duchamp-Trilogie“, 1982-86) und Methodologie („Leitbilder“, 1993)

born 1943, he wrote his doctoral thesis and habilitation in Salzburg. He was a Guest Professor at
the Universities of Zürich and Graz.
1989-1994, he was Professor of the History of Art at the University of Freiburg i.Br..
From 1995-2007, he has been Professor of the History of Modern Art/Aesthetics at the University Duisburg-Essen.
He has published many books on Modern Art (“Duchamp-Triologie”, 1982-86) and Methodology (“Leitbilder”, 1993).