Ilse Middendorf: Zu der Skulptur „Balance“

Balance, 2003
Material: Eisen, Federstahl, Messing
H: 50 cm, B: 40,3 cm, T: 40,3 cm

Balance, 2003
Foto: Udo Hesse

ZU DER SKULPTUR „BALANCE“

Ein Kleinod steht auf meinem Schreibtisch. Es begleitet meinen Alltag, schwingend, bewegt, anregend,
beruhigend und nie ohne Bedeutung. Es steht auf der zuverlässigen Fläche eines halben
Zylinders im Umfang einer Fingerkuppe und mit einer lichten Mitte, aus der ein Stab nach oben
wächst – eine Linie, die das Auge entzückt und mich aufrichten lässt: „Wie aus Stahl“ – ja es ist
ein Stab aus Stahl, eindeutig, klar, schmucklos – und zielstrebig bis zum Punkt, der Halt gebietet.
Hier stockt kurz mein Atem, denn er wollte sich weiter nach oben richten. Das Wunder –
der Punkt – trägt hier eine zweite Linie aus Messing, die waagerecht in unendliche Weite
führt. Zwei Lebenselemente kreuzen sich hier, schneiden sich, vereinen sich. Im Wahrnehmen
der Richtung nach oben und unten lassen sie mich wesentliche vitale Kraft erfahren, die dem
senkrechten Lebensgefühl inne wohnt – und im Waagerechten dagegen erscheint die Fülle der
gestalteten Gegenwart.
Direkt und unerbittlich fordert mich die hohe Kunst dieses Werkes, das mich auch aus feinsten
Klängen der Zartheit anrührt. Rolf Lieberknecht gab ihm den Namen „Balance“. Das
klingt wie der Ruf einer Glocke und verweist das Wort „Gleichgewicht“ in die mehr mentale,
betrachtende Seite des Lebens mit der gleichzeitigen Einsicht, dass Worte die Bedeutung
des Werkes und sein inneres Wesen nicht mehr erreichen.
Im Schauen aber und im Lauschen lässt es mich atmen – einen Atem, der mir Fülle gibt,
mehr Kraft, mehr Stille – und leise entsteht ein Band zwischen dem Kunstwerk und mir. In der
partnerschaftlichen Schwingung entsteht das Glück, gemeinsam bewegt und im Gültigen angekommen
zu sein. Ist es verwunderlich, dass Heiterkeit aufkommt, dass das „Gewichtige“
leicht wird und die „Mitte“ dicht – und dass der ewige Ruhepol „Balance“ als Ruhe und Bewegung
vereint umschlossen ist?
Im Wechsel von Tun und Lassen hat die schöpferische Kraft den Kosmos sichtbar werden lassen
und schenkt der Materie das Erwachen zum bewussten Sein. Das Leibliche, unsere körperliche
Materie, noch immer im Unbewussten befangen, braucht Hingabe und Achtsamkeit,
um im Gleichgewicht die Seinskräfte von Seele und Geist zu ergänzen und die Lebendigkeit
aller Zellen zu bewirken. Hier möchte ich dem Schöpfer der „Balance“,
die auf meinem Schreibtisch steht und mir täglich Gespräche erlaubt, zutiefst danken.

Ilse Middendorf


OBSERVATIONS ON THE SCULPTURE “BALANCE”

A little treasure stands on my writing desk. It accompanies my day-to-day living – vibrating,
moving, inspiring, calming, but never without meaning. It stands on a solid half-cylinder base,
the size of a finger tip and with a central space out of which a rod grows upwards – a line that
entrances the eye and always gives me fresh heart: “As if made of steel” – it is indeed a steel
rod, unequivocal, clear, unornamented – and single-mindedly reaching towards the point
that gives it security. Here my breath falters an instant, for it was directed higher. The miracle,
the point, has a second brass line that stretches horizontally in endless expanse.
Two life elements cross one another here, intersect with one another and unite. Gazing upwards
and downwards, I experience the essential, vital power that dwells in the perpendicular
life feeling – the fullness of the created present exists in the horizontal.
The exalted art of this work that touches me with its most delicate tones of tenderness,
drives me on, directly and mercilessly. Rolf Lieberknecht named it “Balance”. This name
rings like the summons of a bell and its reference is to the mental, reflective side of life, although
it is obvious that words can never convey the meaning of this work and its inner
being.
In my gazing and listening, it allows me to breathe – a breath that gives me fullness, more
strength, more stillness – and very quietly, a band is forged between this work of art and me:
in the vibrations of partnership, the joy of moving together and achieving validity. Is it at all
surprising that happiness is born and “Balance”, uniting both calm and movement, brings
an everlasting peace?
In an alternation of action and non-action, the creative power made the cosmos visible and
endowed matter with an awakening to conscious being. The body, our physical matter,
still imprisoned in unconsciousness, needs attention and watchfulness to complement in
balance the powers of being in soul and mind and to awaken all cells to vitality.
Here, I would like to thank sincerely the artistic creator of the “Balance”, that stands on my
writing desk and still speaks to me every day.

Ilse Middendorf

geb. 1910, Begründerin der Lehre „Der Erfahrbare Atem“. Nach Ausbildungen in Gymnastik,
Tanz und verschiedenen Formen der Leibtherapie, langjährige Arbeit mit C. Veening
1965 Gründerin und Leiterin des Instituts für Atempädagogik und -therapie, das heute als Ilse-
Middendorf-Institute für den Erfahrbaren Atem mit Sitz in Berlin und in Beerfelden (Odw., Inh. Helge
Langguth) bekannt ist
Ab 1965 Lehrtätigkeit und von 1971-1975 Professur für Atem, Ton und Sprache an der
Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Berlin.
Bis heute Mitarbeit an vielen Institutionen im In- und Ausland.
Autorin der Bücher: „Der Erfahrbare Atem – Eine Atemlehre“ / Der Erfahrbare Atem in seiner Substanz“
/ „Wesen und Wirken des Erfahrbaren Atems“ (Studie) / „Der Erfahrbare Atem und seine Bedeutung für den Menschen“
2009 verstorben in Berlin

born 1910, Founder of the movement “The Experienced Breath”.
After training in gymnastics and dance and different forms of physical therapy, many years of cooperative work with C. Veening.
In 1965, she founded the Institute of Breath Pedagogy and Therapy that is today the Ilse Middendorf Instituts of Breath Experience in Berlin and in Beerfelden (Dir. Helge Langguth).
Since 1965 lecturer and from 1971-1975 Professor at the Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Berlin.
Up until the present, collaborative work in many institutions at home and abroad. Publication of various books.
She died 2009 in Berlin