Brigitte Hammer: Die Kräfte der Welt suchen

oder wie ein Künstler seine Aufgabe findet
Gedanken zu den raumplastischen Projekten von Rolf Lieberknecht

Wer in Steglitz am denkmalgeschützten Auto-Pavillon aus den fünfziger Jahren vorbei auf die vom Kulturamt Steglitz genutzte Gründerzeit-Villa zugeht, passiert zwischen Pavillon und Schwartzscher Villa einen den Platzgrund durchschneidenden, in den Boden eingelassenen Streifen kobaltblauen Glases, der von unten mit Neonröhren zum Leuchten gebracht wird. Die Augen des erstaunten Betrachters folgen dem Verlauf des blauen Bandes, das in den Eingang des Büro- und Geschäftshauses – eines bemerkenswerten Bauwerkes des Architektenteams Assmann, Salomon & Scheidt – führt und dort, den Boden der beidseitig offen stehenden Aufzugkabine durchschneidend, auf eine rückwärtig angebrachte Spiegelfläche zuläuft, die das blaue Licht als leuchtende Linie wieder auf den Platz zurückspiegelt. Wenn der Besucher den Aufzug betritt und sich die Türen geschlossen haben, hebt sich das Stück blauen Bandes mit dem Bodensegment im Aufzug senkrecht nach oben und trägt das blaue Licht somit durch alle Etagen.
Dieses 1993 geschaffene Konzept von Rolf Lieberknecht zeigt in seiner schlichten, fast beiläufigen Erscheinungsform und seiner das Haus und den Platz überwindenden Räumlichkeit auf eindrucksvolle Weise die hochkomplexen Implikationen des Arbeits-prinzips des Künstlers und Architekten. Seine Eingriffe in Architektur und Raum sind diskret, aber nachhaltig und ungewöhnlich. Die Steglitzer Arbeit ist am Tage unauffällig und gewinnt mit zunehmender Dunkelheit an fast magischer Intensität.

Lichspur 1, Berlin 1992-93
Lichspur 1, Berlin 1992-93, Foto: Udo Hesse

Sie fügt sich ins Platzniveau und markiert doch eine deutliche Grenze, wenn man den Platz von der Schloßstraße her überquert (da muß man blitzschnell entscheiden, ob man seinen Fuß auf den blauen Streifen stellen mag oder den Schrittabstand so wählt, daß man nicht auf das Glas tritt), während sie den Besucher nahezu unmerklich ins Haus zieht, wenn er von der Grunewaldstraße her kommt, oder ihm die Entscheidung abverlangt, rechts oder links am Streifen vorbeizugehen, wozu der Passant sich in Sekundenschnelle seines Zieles bewußt werden muß.
Die Arbeiten mit Licht und seinen drei Grundqualitäten, seinen energetischen, expansiven und entmaterialisierenden Eigenschaften, bilden einen umfangreichen Komplex in Lieberknechts Oeuvre. Sein Umgang mit diesem Medium ist ebenso konkret wie raffiniert und betrifft sowohl seine „strahlende“ als auch seine „beleuchtende“ Funktion.

Für die erstere werden die Lichtquellen gestaltete Form, für die zweite unsichtbar; werden in einer Arbeit beide Funktionen verbunden – wie zum Beispiel im Lichtpendel für das Arbeitsamt in Berlin –, so finden wir immer eine formal bestechende, klare Gestalt, die die Forderung „form follows function“ überzeugend erfüllt.
Lieberknechts künstlerisches Hauptthema ist sein Umgang mit dem nahezu „materie-freien“ Material, für das er eine Gestaltung entwickeln muß, die dem energetischen Potential der Naturkräfte ein sichtbares Gebilde zuordnet. Seine Fragen an jene Ein-flüsse, die für uns unsichtbar sind und die wir nur durch ihre Wirkungen erfahren können, sind bildhaft und konkret: Welche Farbe hat der Wind? Welche Formen hat die Luft? Welche Gestalt zeigt das Licht? Welche Beschaffenheit bestimmt das Wasser?

Der Künstler spürt den „kraftvollen“ Geheimnissen dieser Welt und ihren Erschei-nungsformen nach und sucht zu ergründen, was die Welt, in der diese Kräfte wirken, unter ihrem Einfluß an Wandlungen erfährt. Seine atmenden Luftskulpturen im Jardin des Baisers (1983) aus leuchtend roter oder grellweißer Fallschirmseide strecken ihre in feine Spitzen auslaufenden Schläuche zitternd in den Raum; die Laserstrahlen schleudern ihre gebündelte, als grellgrüne Linie sichtbare Energie durch den Nachthimmel und suchen ihre Grenzen; Kaskaden von Wassertropfen fangen und brechen das Sonnenlicht.

Wasserstelle, Berlin,1988-89
Wasserstelle, Berlin,1988-89 Foto: Rolf Lieberknecht

Für den Brunnen am Fasanenplatz in Wilmersdorf hat er eine schmale Säule aus Edelstahl entwickelt, in deren schlanken Körper gläserne runde Scheiben eingelassen sind, die in einem flachen Winkelgrad aus der Horizontalen geneigt sind, so daß das Wasser in zähen Tropfen an der einen Seite abläuft und aufregen-de Lichtspiele ermöglicht. Manchmal ergreift der Wind die Tropfenkette und lenkt sie sprühend in einem – je nach Wind-stärke – mehr oder weniger flachen Bogen ab. Abhängig von Sonnenstand und Geduld des Betrachters erscheint ein vibrieren-der Regenbogen.
Die Wirkkräfte der Natur erleben und erforschen, ihre Mög-lichkeiten in der künstlerischen Praxis auszuloten, ihre Ergebnisse zu vermitteln bei der Raumgestaltung und (Um-)Welterfahrung – dies ist das künstlerische Programm des 1947 in Mettmann, einer kleinen Stadt bei Düsseldorf, geborenen und seit 1989 in Essen lehrenden Architekten und Künstlers. In seinen Arbeiten verbinden sich geometrische Strukturen, physikalische Kräfte und technische Elemente zu visuellen Erlebnisräumen von hoher emotionaler Intensität.

Mit Otto Piene bei "Die Zukunft der Metropolen", Berlin, 1984
Mit Otto Piene bei „Die Zukunft der Metropolen“, Berlin, 1984 Foto: Technische Universität Berlin

Der von Kriegserlebnissen geprägte katholische Mystizist Joseph Beuys als institutionalisierter Tabu-Brecher mit seinen aufsehenerregenden Performances an der Düsseldorfer Kunstakademie und die die westdeutsche Avantgarde der sechziger Jahre dominierenden jungen Künstler der Zero-Gruppe (Heinz Mack, Otto Piene, Günter Uecker u.a.) mit ihren Happenings und Ein-Tages-Ausstellungen beschäftigten sich schon in den fünfziger Jahren mit den Problemen des Lichts und Themen der Umweltgestaltung und praktizierten eine Zuschauerbeteiligung an der künstlerischen Aktion. „Eine unserer wichtigsten Absichten war die Reharmonisierung des Verhältnisses von Mensch und Natur – wir sehen in der Natur Möglichkeiten und Impulse, die Wirkung der Elemente und ihre stoffliche Gestalt: Himmel, Meer, Arktis, Wüste, Luft, Licht,Wasser, Feuer als Gestaltungsmedien; der Künstler istnicht der Flüchtling aus der modernen Welt, nein, er verwendet neue technisch Mittel ebenso wie die Kräfte der Natur.“ (Otto Piene, in: Zero 3, edition exposition demonstration, Galerie Schmela, Düsseldorf 1961)

Beuys und Zero bildeten zusammen mit den Künstlern der Gruppe „Junger Westen“und der Fluxus-Szene um Nam June Paik das Spektrum des geistig-künstlerischen Umfeldes, in das Lieberknecht hineinwuchs und das er als Rüstzeug und Gepäck mitnimmt, als er 1967 als zwanzigjähriger Student nach West-Berlin geht. Die westdeutsche Avantgarde begann zu jener Zeit mit wachsender Intensität die amerikanischen Kunstströmungen zu rezipieren und entwickelte unter dem Einfluß von Pop Art und Konzeptkunst eigenständige westdeutsche Strömungen.

Contact Suspended, London, 1979
Contact Suspended, London, 1979 Foto: Rolf Lieberknecht

Die Beziehungen von Kunst, Technologie und Wissenschaft nach der ersten Mondlandung und der fortschreitenden Eroberung des Weltraumes, ihr Verhältnis zum gesellschaftlichen Umfeld, ihre Verantwortung im politischen Kontext und ihre Verantwortbarkeit unter dem Primat des technischen Fortschritts waren die großen Themen der späten sechziger Jahre, als Lieberknecht seinen Weg in West-Berlin begann, in einem künstlerischen Umfeld, in dem die expressive ebenso wie die realistische Tradition gepflegt wurde und das von den Kämpfen der rheinischen Avantgarde noch relativ unberührt war.

Erst in der rasanten Entwicklung des westdeutschen Kunstmarktes als Folge der Messe-Gründung in Köln (1967) begann sich das Berliner Kunstleben in den späten siebziger Jahren den Einflüssen der westdeutschen Kunstszene zu öffnen. Zuvor hatten das Berliner Künstlerprogramm des DAAD und Galerien wie die von René Block oder Anselm Dreher intensiv daran gearbeitet, der internationalen „West-Kunst“ auch in Berlin den Boden zu bereiten. Der technoid anmutenden und moderne Technik verwendenden kinetischen Kunst ist im Zuge der politischen Diskussionen der siebziger Jahre oft vorgeworfen worden, sie fröne einem ästhetischen Formalismus, folge einer fragwürdigen Technikgläubigkeit und ihr fehle eine zeit- und technikkritische und politische Haltung. An Lieberknechts Arbeiten kann jedoch gezeigt werden, daß solche Einwände nicht stichhaltig sind. Seine sich an Standort und Umfeld orientierenden skulpturalen Objekte oder environmentalen Inszenierungen beweisen sehr wohl ein subtiles kritisches Potential und eine inhaltliche Tiefe; darüber hinaus reflektieren sie die Bedingungen der Kunstproduktion im Zeitalter der fortgeschrittenen Technisierung unseres Alltagslebens.
Für den Kongreß des Royal Institute of British Architects (RIBA) 1979 über die Grenzen des Design realisierte Lieberknecht im Treppenhaus des RIBA zusammen mit anderen Stipendiaten des Royal College of Art eine große Arbeit mit dem Titel Contract Suspended: an der etwa fünfzehn Meter hohen Decke des Treppenhauses wurden kleine Flugzeugmodelle befestigt, die Elemente abwarfen, die eine sich nach unten vergrößernde Spirale bildeten. Die fallenden Elemente entwickeln sich von diffusen Formen zu immer größer werdenden Gegenständen bis hin zu
Fernsehmonitoren und lebensgroßen Puppen, die Plastiktragetaschen in den Händen halten: ein aggressives Environment voller historischer und zivilisationskritischer Bezüge.
Der am Boden „klebende“ L’ Albatros aus gefalteten Bleiplatten, der am Otto-Lilienthal-Flughafen in Berlin-Tegel seine zum Flug bereiten Schwingen der Schwerkraft unterwerfen muß, steht als Zeichen einer zu überwindenden Materialität am Ort der globalen Luftverbindungen. Seine poetische Kraft entfaltet er als temporäre Lichtprojektion auf die weiße Wand des Fraunhofer-Institutes, wenn erdort seine computergesteuerten Flugbahnen zieht. Die Laserprojektion Ost-West vom 3. Oktober 1993 spannt eine reziproke Luftlinie zwischen der Humboldt-Universität in Berlin-Mitte und der Technischen Universität an der Straße des 17. Juni und verbindet zwei in Zeiten der wachsenden Konkurrenz nach Gemeinsamkeit suchende Wissenschaftlergruppen.

 

Windkinetische Großplastik, Berlin, 1995-97

Kooperation, Zusammenarbeit und Austausch mit Experten anderer Fachrichtungen sind wesentliche Elemente für die Entstehung solcher komplexen Arbeiten, wie Lieberknecht sie entwickelt. Seine Studienaufenthalte in der von George Rickey gegründeten Hand Hollow Foundation in East Chatham, an der Djerassi Foundation in Kalifornien und ein Gastaufenthalt an dem von Otto Piene geführten Center for Advanced Visual Studies (CAVS) des Massachussetts Institute of Technology (M.I.T.) haben sicher zur vertiefenden Formulierung seiner Gestaltungsideen und Entwicklung seines kommunikativen Arbeitsstiles beigetragen. Nur im Austausch und Zusammenführen der kreativen Potentiale können in unserer komplexen Wirklichkeit Innovationen entwickelt und vermittelt werden.
Ein schönes Beispiel für das Entstehen einer technisch-künstlerischen Erneuerung können wir beim Windspiel im nordöstlichen Randbezirk Hellersdorf von Berlin anführen. Wer sich dem südlichen Stadteingang der Kreuzung Hellersdorfer und Gülzower Straße nähert, hat von Westen her anfahrend einen langen Blick über das sich am rechtsseitig liegenden Grünstreifen entlangziehende graue Strassenband. Linksseitig wurde vor der zurückspringenden Bebauung vor drei Jahren ein Grünstreifen mit Parkplätzen angelegt, so daß der Blick des Herankommenden durch eine Art „grünen Tunnel“ auf die Stadtkante gelenkt wird.
Für diesen Standort wurde in einem konkurrierenden Verfahren eine kinetische Edelstahlskulptur von Rolf Lieberknecht ausgewählt, weil sie dem dort vorherr-schenden fließenden Verkehr eine sehr langsame und ständige Bewegung entgegensetzt und an dieser Straßenkreuzung an der südlichen Stadtkante auch günstige Windverhältnisse für den gewünschten Bewegungsfluß sorgen.
Auf einem vier Meter hohen Sockel, der die Skulptur aus der Unruhe auf der Straßenebene heraushebt, ragt ein feststehender, leicht aus der Senkrechten gekippter Edelstahlkörper von ca. 30cm Breite und etwa 6cm Dicke empor, an dem über eine querliegende Achse ein zweiter schwingender Schenkel befestigt ist, der durch seine raffinierte innere Kugellagertechnik auf jeden, auch zarten Lufthauch anspricht und eine im Widerstreit von Luftzug und Luftwiderstand liegende spannungsvolle Bewegung ausführt.
Ein flach geschwungenes Kreisbogensegment aus gerundetem Stahlrohr sorgt für den internen Kräfteausgleich und bildet eine überzeugende formale Ergänzung, indem die rechteckigen Flächen der Plastik durch das gebogene Rohr mit einem runden Querschnitt eine anders geformte Reflexoberfläche anbieten, die Licht und Bewegung auf eine zusätzliche Weise erfahrbar werden lassen. Die Wahrnehmung der Bewegungschoreografie wird von den Licht- und Wetterverhältnissen stark beeinflußt, manchmal blitzen die Schenkel in der Nachmittagssonne auf, wenn das Licht schräg von Westen darauffällt, an trüben Wintertagen mit diffusem Licht,wenn das „Hintergrundgrün“ der Bäume fehlt, kann das helle Grau des Edelstahls fast vollständig mit der Himmelsfarbe verschmelzen und die Skulptur fast unsichtbar werden lassen.
Lieberknecht studiert für seine großen Arbeiten im Stadtraum die Bewegungsfiguren in seinem Atelier an verschieden großen Arbeitsmodellen, die dann den ausführenden Firmen zur Vorlage dienen. Wie sich an der Arbeit für das Windspiel zeigte, verursachte die Vergrößerung des Modells auf die gewünschte Höhe im Zusammenwirken mit dem Hellersdorfer Wind besondere technische Probleme durch das Auftreten fremder Kräfte, die auch den Ingenieuren und Naturwissenschaftlern bisher unbekannt geblieben waren und das Funktionieren der Bewegungsabläufe der Skulptur nachhaltig beeinträchtigten, so daß für ihre Vergrößerung völlig neue technische Lösungen gefunden werden mußten. So erhielt die Skulptur das angefügte Kreisbogensegment, das für die reibungslosen Bewegungsabläufe in den kleinen Modellen nicht nötig war, für die große Arbeit jedoch unabdingbar wurde.
Das Verhältnis von Modell und Realität berührt eine der wesentlichen Fragen der architekturbezogenen Kunst. Die Erfahrung zeigt immer wieder, daß die für die Dimensionen des Stadtraumes notwendige Vergrößerung des Maßstabes nicht nur gewisse technische Probleme verursacht und sorgfältig zu bedenkende Fragen der Materialwahl aufwirft, sondern auch zu einer mitunter problematischen Formatierung führen kann, da die Gefahr einer unangemessenen oder unerwünschten Monumentalisierung entsteht. Diese Problematik wurde erst jüngst wieder durch die aktuellen Denkmalsdebatten aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Die Gefahr einer unerwünschten Monumentalisierung besteht bei dem Hellersdorfer Windspiel überhaupt nicht. Trotz ihrer Höhe von achtzehn Metern (ohneSockel) wirkt die Skulptur eher zierlich. Sie beweist eine filigrane Eleganz und beschwingte Geschmeidigkeit der Bewegungsabläufe und verbirgt die enormen Gewichte und Kräfte, die in ihr wirksam sind.

 

Wasserskulptur, Berlin, 1995

Wer dagegen im Tiergarten das Blaue Haus, ein 1996 fertiggestelltes Bürohaus an der Ecke Perleberger/Lehrter Straße, betritt, kann eine ebenso imposante wie gewichtige Wasserkunst betrachten, deren Kräfte und Gewichte sich unmittelbar darstellen. Ein riesiger, schmeichelnd gerundeter Block aus rötlich schimmerndem feingekörnten Granit scheint auf einer hochaufragenden, metallverkleideten schwarzen Wand zu balancieren. Aus seinem Inneren quillt ebenso leise wie unaufhörlich ein kontinuierlicher Wasserstrom, der die Wölbungen des Steines umhüllt und dann an der schwarzen Metallwand hinabläuft.

Hier kann an einem eindrucksvollen Beispiel die Frage des Maßstabs erneut diskutiert werden. Quellende Brunnensteine in handlichem Format können, mit einer kleinen Pumpe versehen und in Schalen zu mehr oder weniger kitschigen Arrangements gefügt, in Kaufhäusen oder Esoterik-Läden als Luftbefeuchter für den Hausgebrauch erworben werden. In Lieberknechts Format gewinnt die Brunnenanlage eine monumentale Qualität, die in ihrer Gestalt die bildhauerischenGrundfragen von Tragen und Lasten thematisiert und eine meditative Schönheit und Erhabenheit ausstrahlt.

Die Form des Steines wurde aus einem maßstäblich vergrößerten Fundstück gewonnen, das der Künstler auf einem Spaziergang am Meer aufgehoben und wegen seiner weichen, vom Meer geschliffenen und gerundeten Form mit in sein Atelier genommen hatte. Dort fristete der Stein ein jahrelanges, nahezu unbeachtetes, durch gelegentliches nachdenkliches Streicheln unterbrochenes Dasein, bis der Künstler auf der Suche nach einer überzeugenden Form für den Brunnen im Blauen Haus sich seiner erinnerte und er zum Vorbild für den Brunnenstein wurde. Nachdem seine Form – elektronisch abgetastet und mit Computerhilfe maßstäblich genau vergrößert – aus einem Felsblock herausgearbeitet worden war , wurde der Stein von einem Kran sanft auf den vorbereiteten, zwei Geschoß hohen schwarzen Sockel im Atrium des Blauen Hauses niedergesenkt.
Die Plazierung des Brunnensteins mußte im Rohbau vorgenommen werden, bevor das abschließende Glasdach montiert wurde, da keine andere für das Hineinbringen des Steines geeignete Öffnung im Haus vorhanden war und der Querschnitt des Steines in Relation zum Querschnitt des Atriumschachtes entwickelt worden ist. So orientiert sich die Brunnenanlage nicht nur an den Maßstäben des Hauses und fügt sich seinen Vorgaben, sondern sie ist somit wirklich untrennbar mit dem Haus verbunden, und das ununterbrochene, leise Verströmen des Wassers wirkt wie eine erfrischende Quelle der Vitalität, die die kreative Atmosphäre des Hauses mitprägt und belebt.
Raum greifen, Raum gestalten und Raum prägen sind die grundlegenden Prinzipien des Lieberknechtschen Kunstschaffens und das wesentliche Anliegen seiner Gestaltungskonzepte. Sie sind zurückhaltend und maßvoll in ihrer Erscheinungsform, aber von überzeugender Stringenz, bei durchkalkuliertem Einsatz der Mittel. Material und Aufwand werden überlegt und angemessen, in einem geradezu ökonomischen Verhältnis geplant und realisiert. Die Gestaltungsideen und ihre Umsetzungsstrategien werden gleichermaßen von Intuition und Erfahrung gesteuert. Lieberknechts Kunst ist vollkommen unprätentiös, und was an ihr fasziniert, sind die Räume der Sinnlichkeit, die sich über dem Werk öffnen. Dafür bedarf es allerdings eines Betrachters mit wachem Geist und offenem Herzen.